Tina Leisch, Regisseurin in Wien, Mitglied des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung
Anerkennungspreis der Paul Grüninger Stiftung 2023
Nusaybin. Eine Stadt ungefähr so groß wie St. Gallen. Nur viel älter. Seit 3000 Jahren ist Nusaybin, – auf Kurdisch Nisêbîn, in der Antike Nisibis – ein Knotenpunkt von Handelsrouten, ein Berührungspunkt verschiedener Reiche, Religionen, Kulturen und Sprachen.
Seit vor hundert Jahren die Grenze zu Syrien direkt südlich der Stadt gezogen wurde, ist sie Teil der türkischen Republik, obwohl 80 Prozent der Bevölkerung im Alltag kurdisch sprechen und sich auch gar nicht als Türken identifizieren. Genauso wenig wie die Minderheiten der christlichen Aramäer:innen, der Araber:innen, der Armenier:innen, der assyrischen Christen.
2009 wird hier zum ersten Mal eine Frau ins Bürgermeisteramt gewählt und sie definiert dieses Amt ganz neu. Ob beim Einkaufen, auf der Strasse oder bei einer Hochzeit: Wo die Bürgermeisterin auftaucht, sammeln sich Menschen um sie herum und bitten sie um Rat und Hilfe.
Und ihr Blick nimmt als erstes die Frauen wahr, bestärkt sie, ermutigt sie zu reden, sich zu Wort zu melden. Und sie hört ihnen zu.
Das ist beileibe nicht selbstverständlich in einer Gesellschaft, in der die Männer das Sagen haben. Das Sagen und das Schauen. In einem sozialen Raum, der strukturiert und beherrscht ist vom männlichen Blick und den männlichen Gewohnheiten.
Durch diesen männlich definierten öffentlichen Raum der Stadt geht und fährt und schreitet und tanzt ein kleines weibliches Energiebündel. Eine fast allgegenwärtige Troubleshooterin, die Volksversammlungen einberuft, um die Menschen – Männer wie Frauen– dazu zu bewegen, ihre Probleme in die Runde zu werfen und gemeinsam Ideen für ihre Lösung zu entwickeln, die siedann umsetzen kann.
Kleine Probleme. Ein Nachbarschaftsstreit wird gelöst. Ein verdreckter Fluss wird saniert. Eine kaputte Wasserleitung, eine verstopfte Kanalisation werden repariert.
Und große Probleme. Die hohe Analphabetinnenrate: Sie organisiert Alphabetisierungskurse und eine Bibliothek für Frauen.
Dass Burschen und Männer in den Parks und auf den Plätzen Fussball spielen, Sport treiben, herumhängen, rauchend in der Wiese liegen können, Frauen aber nicht, in dieser doch traditionell muslimischen Gesellschaft: Sie schafft einen uneinsehbaren Frauenpark.
Dass alleinstehende und verwitwete Frauen eine Möglichkeit brauchen, Geld zu verdienen: Sie gründet einen Markt, auf dem Frauen ohne Standgebühren zu bezahlen, verkaufen dürfen.
Häusliche Gewalt: Sie läßt ein Frauenhaus einrichten, das Zuflucht und Beratung bietet.
Während ihrer Amtszeit hat die Gewalt gegen Frauen und die Zahl der Frauenmorde in der Türkei stark zugenommen, mehrere Hundert pro Jahr. In Nusaybin allerdings ging beides signifikant zurück. Im letzten Jahr ihrer Amtszeit gab es keinen einzigen Mord an Frauen im Distrikt Nusaybin.
Diese Bürgermeisterin, das war Ayşe Gökkan. Sie wurde 1965 im Dorf Kulince im Bezirk Suruç in Urfa geboren. Nach Abschluss der Volksschule besuchte sie das Gymnasium in Urfa. 1998 studierte sie Journalismus an der American University of Cyprus in Nordzypern und machte dort ihren Abschluss. Sie arbeitete als Journalistin für verschiedene überregionale Zeitungen insbesondere für die Zeitungen «Özgür Gündem» und «Azadiya Welat». Mit spitzer Feder schrieb sie an gegen das Patriarchat, das sie sich ganz wörtlich vom Leib hielt mithilfe von Selbstverteidigungstraining.
Sie war aktives Mitglied der Parteien HEP, DEP, HADEP, DEHAP, DTP, BDP, HDP und HEDEP. Das heißt aber nicht, dass sie alle zwei, drei Jahre die politische Meinung gewechselt hätte. In Wirklichkeit hat nicht Ayşe die Partei gewechselt, sondern die Partei hat den Namen gewechselt. Die größte prokurdische Partei in der Türkei wurde regelmäßig verboten und dann unter neuem Namen neu gegründet.
2009 wurde Ayşe Gökkan schließlich mit einem spektakulären Ergebnis von 83 Prozent zur Bürgermeisterin gewählt. Zentraler Fokus ihrer Arbeit war, Nusaybin zur «Frauenstadt» zu machen.
Dafür legt sie sich auch mit den Organen der Zentralregierung in Ankara an. Als Ayşe Gökkan Berichte von Frauen sammelt, die von Polizisten sexistisch belästigt oder bedroht wurden, und sich beim Gouverneur der Provinz beschwert und ihn auffordert, dem Einhalt zu gebieten, wird ihr das als unerhörter Akt der Rebellion ausgelegt. Ihr Akt füllt sich mit Strafanzeigen wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen, ihrer Verlautbarungen und Erklärungen, ihres Einsatzes für Frauenrechte, Kinderrechte, Menschenrechte.
Ein wichtiges Thema, das sie auf die politische Agenda setzte, war der Frauenhandel und das Leiden von Frauen aus Syrien, die gegen ihren Willen über die Grenze in die Türkei gebracht und da zwangsverheiratet werden. Wie kann man diese unfreiwilligen Ehefrauen erreichen, über ihre Rechte aufklären und ihnen spezielle Beratung und Hilfe anbieten? Und wie kommen diese Frauen zu ihren Familien zurück, wenn die türkische Regierung plötzlich den Grenzübergang zu der in den letzten 100 Jahren auf der syrischen Seite der Grenze gewachsenen Nachbarstadt Qamisli schließt?
2013 tauchen auf einmal von Panzern begleitete und bewachte Betonmischmaschinen an der Grenze auf. Ohne die Bürgermeisterin zu informieren, hat die türkische Regierung den Bau einer gigantischen Grenzmauer beschlossen. Es ist Krieg im Nachbarland Syrien. Die Flüchtlinge müssen abgewehrt werden. Die Empörung in der Bevölkerung ist groß. Der kleine Grenzverkehr, der Handel – und auch der Schmuggel – über die Grenze sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, viele Familie haben Angehörige auf der anderen Seite, aber vor allem ist die Solidarität der Bevölkerung mit den Kriegsflüchtlingen immens: Sie werden in den kurdischen Städten der Türkei mit offenen Armen willkommen geheißen und von den Gemeinden und der Bevölkerung versorgt. Die Empörung steigt weiter, als immer öfter dokumentiert wird, dass das türkische Militär zwar Flüchtlinge abweist und zurückschiebt, aber dschihaddistische Kämpfer, die über die Türkei in den Krieg nach Syrien ziehen, nicht nur durchläßt, sondern auch mit Waffen ausstattet. Die Bürgermeisterin Ayşe Gökkan protestiert. Sie macht einen Sitzstreik im Grenzstreifen, sitzt Tag und Nacht zwischen Panzern und Baufahrzeugen. Sie macht einen Hungerstreik, widersetzt sich den Anweisungen aus Ankara. Auch dieser Protest gegen die sogenannte «Mauer der Schande», gegen die «Berliner Mauer» quer durch Kurdistan trägt ihr Strafanzeigen und ein Gerichtsverfahren ein.
Es war ein Protest gegen die weitere Fortifikation einer vor hundert Jahren willkürlich von den Kolonialmächten gezogenen Grenze, einer unter der Vorherrschaft der Idee des ethnisch und sprachlich und religiös homogenen Nationalstaats gezogenen Grenze, einer Grenze «made in Switzerland» übrigens, in Lausanne nämlich, auch wenn die Schweiz keiner der Staaten war, die den Vertrag unterzeichneten. Einen Vertrag, den der damalige mitverhandelnde britische Außenminister als «eine durch und durch schlechte und böse Lösung, für welche die Welt während der nächsten hundert Jahre noch eine schwere Buße entrichten werde müssen» bezeichnet haben soll.
Einen Teil dieser Buße entrichtet heute Ayşe Gökkan.
2014 trat Ayşe Gökkan nicht wieder zur Wahl an. Sie wurde Sprecherin der Frauenorganisation «Tevgere Jinen Azad», «Freie Frauenbewegung», in der sie unter anderem ihre Erfahrungen in Nusaybin für eine feministische Lokalpolitik im ganzen Land fruchtbar machen möchte.
Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 gewann dann die linke prokurdische Partei HDP
über 13 Prozent der Stimmen und das kostete Erdogans AKP die absolute Mehrheit. Nicht zuletzt die vorbildliche Arbeit der kurdischen Bürgermeister:innen hat dazu beigetragen.
Die Reaktion der AKP-Regierung ist vernichtend. Ein Großteil der gewählten Bürgermeister*innen in den kurdischen Gebieten wurden ihres Amtes enthoben und durch von Ankara diktatorisch eingesetzte Zwangsverwalter ersetzt. Über zehntausend Menschen aus der legalen, zivilgesellschaftlichen, demokratischen Opposition wurden verhaftet. Tausende von Gewissensgefangenen sitzen heute in den türkischen Gefängnissen.
Auch Ayşe Gökkan. Im Januar 2021 wurde sie verhaftet und im Oktober desselben Jahres in erster Instanz zu 30 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde dann in einigen Punkten revidiert und beträgt jetzt noch 26 Jahre und 3 Monate. Mit der ehemaligen Bürgermeisterin von Diyarbakır Gülten Kişanak, mit den ehemaligen Parlamentsabgeordneten Ayla Akat und Sebahat Tuncel, mit Aynur Aşan, Zeynep Karaman und Dutzenden weiteren Frauen sitzt Ayşe Gökkan im Sinçan-Gefängnis in Ankara. Aber wie lange noch? Wirklich noch für Jahrzehnte?
Eine höchstrichterliche Entscheidung des türkischen Kassationsgerichtes steht noch aus. Das Verfahren liegt auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wenn dessen Urteil noch vor der höchstinstanzlichen Entscheidung in der Türkei gefällt würde, könnte es diese vielleicht positiv beeinflussen. Die europäische Aussenpolitik könnte die Einhaltung von Menschenrechten, Frauenrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien bei ihrem Gebahren mit der Türkei einfordern und das heißt unter anderem die Freilassung der Gewissensgefangenen verlangen.
Die Verleihung eines Anerkennungspreises der Paul Grüninger Stiftung an Ayşe Gökkan für ihren mutigen Protest gegen den Bau einer Mauer durch Nusaybin gegen die aus Syrien Flüchtenden möchte gerne eine Schere sein, um die Haftzeit der politischen Gefangenen zu verkürzen.
Tina Leisch, im November 2023