Festrede zur Verleihung des Paul Grüninger Preises 2019 an die Crew des Rettungsschiffes Iuventa, St. Gallen, 10. Mai 2019

Von Wolfgang Kaleck, Rechtsanwalt, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Mitglied des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung

Liebe Crew der Iuventa, liebe anwesende Fluchthelferinnen und Fluchthelfer aus nah und fern, sehr geehrte Damen und Herren

1. Die erste Würdigung des heutigen Abends gebührt der Familie des 1972 in Armut verstorbenen Paul Grüninger, insbesondere  der Stiftungsratsvorsitzenden der Paul Grüninger Stiftung und Tochter von Grüninger, Ruth Roduner sowie ihrem Rechtsanwalt Paul Rechsteiner. In einer jahrzehntelangen rechtlichen und politischen Auseinandersetzung erstritten sie die längst überfällige Rehabilitierung des von der St. Galler Regierung fristlos entlassenen und später sogar verurteilten Paul Grüninger.[1] Mit der finanziellen Entschädigung konnten 1998 die Paul Grüninger Stiftung und der Preis etabliert und damit ein auch heute wertvoller öffentlicher Raum geschaffen werden. Dafür gebührt Ihnen unser herzlicher Dank.

2. Bisher wurde der Paul Grüninger Preis an AktivistInnen wie die spanische Landarbeitergewerkschaft SOC-SAT oder usbekische und kolumbianische Menschenrechtlerinnen verliehen. Auf Grund der aktuellen politischen Situation in Europa hatte sich der Stiftungsrat entschlossen, den Preis für besondere Menschlichkeit und besonderen Mut dieses Jahr an eine Person oder eine Gruppe zu vergeben, die dem Vermächtnis des Namensgeber Paul Grüninger besonders nahe steht, also solchen Menschen, die gefährdeten Individuen ermöglichen, sich in Sicherheit zu bringen und/oder in menschenwürdigen Bedingungen zu leben.

3. Keine Sorge, hier werden keine vorschnellen Vergleiche zur Situation Europas zur Zeit der nationalsozialistischer Herrschaft gezogen. Der österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann fand jüngst passende Worte für den Brückenschlag zwischen damals und heute gefunden[2]:

«Wenn man sich erinnert, dass das ‚Dritte Reich’ kein blasses Mahnwachen-Fantasiegespinst ist, sondern dass sich vor kurzer Zeit erst von diesem unseren Land aus die allerrealsten Flüchtlingsströme über Europa ergossen haben, Ströme von Verzweifelten, Entwurzelten und Entrechteten, die man von hier vertrieben hat und die dann draußen keiner aufnehmen wollte, dann beurteilt man vielleicht auch einen jungen Kanzler anders, dessen größter Stolz darin liegt, dass er im Bündnis mit dem Möchtegern-Diktator Ungarns im Stande war, verzweifelte Menschen ohne Heimat, Pass und Rechte, die mit Mühe das nackte Leben retten konnten, von unserem reichen Europa fernzuhalten.»

Der Schriftsteller erinnert an das Schicksal seines Vaters Michael Kehlmann, der zunächst im KZ Mauthausen gefangen war und dann 1939 um ein Haar an Bord eines der Flüchtlingsschiffe gegangen wäre, das zunächst nach Kuba und die USA ansteuerte und von dort aus wieder zurückgeschickt wurde – nach Europa, mit dem voraussehbaren Ergebnis, dass die meisten der Flüchtlinge ermordet wurden.

«Dass er, anders als ein Großteil seiner Familie überlebte, verdankte er höchstunwahrscheinlichen Zufällen. Hätten sich diese nicht ereignet – für die meisten Menschen gab es solche rettenden Zufälle nicht, stünde ich nicht vor Ihnen. Es ist eine schlichte Wahrheit. … Nicht vergessen was passiert ist, das heißt eben nicht nur an Jahrestagen in Konzentrationslagern … zu gedenken. Es heißt auch, Menschen zu helfen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes noch nicht vor langer Zeit.»

4. Es mag nicht üblich sein, aus Juryberatungen zu berichten, doch unsere  -kontroverse-  Diskussion hat es verdient. Nicht etwa, weil der Stiftungsrat grundsätzlich über die Kandidaturen und deren Einsatz für Menschenrechte und insbesondere für die Geflüchteten gestritten hätte. Nein, im Gegenteil, wir hätten gerne noch weitere Preise verliehen.

Denn das Bild, was die an die Stiftung übersandten Preisvorschläge vermittelten, war ein äußerst ermutigendes: Viele Menschen in ganz Europa setzen sich aus politischen, ethischen oder höchst individuellen Motiven für Geflüchtete ein, sei es in der Schweiz, in Deutschland oder insbesondere im Mittelmeerraum.

Aber wir haben heute auch von der Kehrseite der Medaille des vielfältigen gesellschaftlichen Engagements in Europa zu reden:

Der allenthalben in Europa erfolgenden Kriminalisierung von Solidarität und von Widerstand gegen eine menschenverachtende Flüchtlingspolitik.

5. Damit sind wir dann auch bei den Gründen für  die Auszeichnung der Crew der Iuventa:

Das Schiff wurde 2016 von der deutschen Nicht-Regierungsorganisation Jugend Rettet[3] gekauft und umgebaut, und war dann über ein Jahr lang im Mittelmeerraum eingesetzt, um gemeinsam mit Dutzenden weiterer Boote von anderen Organisationen, Tausende von schiffbrüchigen Flüchtlingen aufzunehmen. 2017 wurde dann die Iuventa im Hafen von Lampedusa von italienischen Behörden beschlagnahmt.

Nicht nur das: Seitdem wird ein in seinen Folgen noch nicht absehbares strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen derzeit 24 Personen, darunter zehn ehemalige Besatzungsmitglieder der Iuventa, geführt.[4]

Traurigerweise kein Einzelfall, wie die im letzten Jahr veröffentlichte Studie des Transnational Institute aus Amsterdam «The Shrinking Space for Solidarity with Migrants and Refugees: How the European Union and Member States target and criminalize defenders of the Rights of People on the Move» zeigt. 

Der Fall der Iuventa ist jedoch besonders hervorzuheben. Die italienische Justiz hat mit einem unverhältnismäßig hohen Einsatz strafrechtlicher und polizeilicher Ressourcen politische Zwecke verfolgt- das ist genau die Konstellation die der kritische Jurist Otto Kirchheimer in seinem Standardwerk als Politische Justiz bezeichnet.

Aufgrund von Zeugenaussagen von Mitarbeitern sogenannter Sicherheitsfirmen und später eingeschleuster verdeckter Ermittler wird eine Zusammenarbeit der Iuventa mit Schleppern aus Libyen behauptet. Damit wird nicht nur die Kriminalisierung der erwähnten 24 Personen, sondern die Denunzierung der gesamten Solidaritätsbewegung betrieben. Nicht zuletzt die diese Woche in «Die Zeit» und der «Wochenzeitung WOZ» erschienenen Artikel[5] über einen der Kronzeugen, nämlich den italienischen Sicherheitsmann Pietro Gallo, belegen, wie vor allem der heutige italienische Innenminister Matteo Salvini den Fall der Iuventa aus einem unmittelbar wahlpolitischen  Interesse konstruiert und benutzt hat, um sein eigenes dreckiges Süppchen zu kochen. Gallo hat mittlerweile öffentlich seine belastende Aussage stark revidiert.

Auch die von italienischen Behörden als Beweis für die Kooperation der Iuventa mit Schmugglern herangezogenen Videoaufnahmen sind falsch: Die in London ansässigen Gruppen Forensic Architecture und Forensic Oceanography haben mit einer dreidimensionalen Simulation auf der Basis von Videos und weiteren Informationen den Gegenbeweis angetreten[6].

6. Die Crew-Mitglieder hätten es aus Solidarität und aus Hochachtung für ihr menschliches und politisches Engagement verdient, hier im Einzelnen gewürdigt zu werden, doch möchte ich aber auch an dieser Stelle ihrem und unseren politischen Anliegen Rechnung tragen.

Das heutige Setting spricht für sich selbst. Es sind nicht nur die Grüninger Preis- und Ehrenpreisträger*innen versammelt, sondern viele andere, die ebenfalls für den Preis nominiert waren und sich aus unterschiedlichen Gründen gegen Kriminalisierung zur Wehr setzen und solche, die ihnen solidarisch Beistand leisten. Dies geschieht mit Unterstützung der Paul Grüninger Stiftung auf ausdrücklichen Wunsch der heutigen Preisträger*innen, denen es ausdrücklich nicht um das Abfeiern ihres eigenen Heroismus geht .

Denn so wichtig der unmittelbare menschliche Einsatz Einzelner und von Kollektiven von Einzelnen ist, als Beispiel, als Inspiration, als Mutmacher, geht es hier um das Ganze. Und das Ganze ist nicht nur die skandalöse Tatsache, dass der Friedensnobelpreisträger Europäische Union sich durch seine menschenverachtende Abschottungspolitik Tausende und Abertausende von Toten auf der Flucht nicht nur im Mittelmeerraum, allein hier sollen es 35.000 Menschen gewesen sein, und auf dem Weg dahin durch Nordafrika und das subsaharische Afrika schuldig gemacht hat[7]. Sondern auch die Zusammenarbeit mit notorischen Menschenrechtsverletzern, wie vor allem derzeit die Warlords von Libyen, von denen in einem lesenswerten Artikel im dieswöchigen Der Spiegel die Rede war.

Dies ist natürlich zu allererst ein politisches Problem und das erfahren wir alle in Europa wenige Wochen vor den Europawahlen immer wieder auf das schmerzlichste. Das Schicksal von Menschen, die sich aus Kriegsregionen wie Afghanistan, Irak oder Syrien, nach Europa flüchten, und auf der anderen Seite vor menschenunwürdigen Lebensbedingungen in Afrika hierher aufbrechen wird von faschistischen, rechten und populistischen Ideologen und Politikern instrumentalisiert wird. Sie wollen unsere Gesellschaften in zunehmend autokratische und undemokratische Regime umgestalten und dabei jegliche Solidarität mit den hierher Geflüchteten und ihren LeidensgenossInnen in ihren Ursprungsländern und -regionen fallenlassen.

Damit stellen die Salvinis und Orbans für die Geflüchteten, aber auch für uns alle eine unmittelbare Bedrohung dar- und als wenn das noch nicht genug wäre, vernebeln sie den eigentlichen Kein des Problems: das Verständnis dafür warum unsere Welt so aussieht wie sie gerade aussieht. Eine politische und ökonomische Analyse dessen, was zu der großen Flucht geführt hat, wäre so notwendig, um die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte hier in Europa zu verstehen: Der Wegfall von Millionen Arbeitsplätzen, die Entwertung von Arbeit, die zunehmende soziale Ungerechtigkeit und alles das, was wir als Auswirkungen eines digitalisierten und globalisierten Kapitalismus als Einzelne und als Gesellschaften derzeit erfahren.

Eine der immer wieder gehörten Argumente der alten und neuen Rechten in Europa ist die angebliche zivilisatorische Überlegenheit von Europa und der europäischen Tradition – eine Geschichtsblindheit sondergleichen. Nicht nur die Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts, etwa im Kongo oder in Namibia, werden dabei vollkommen ausgeblendet, sondern auch das Unrechtsregime gegen das sich Paul Grüninger gestellt hatte, der Nationalsozialismus.

Auch die heutige Sichtweise der Westeuropäer von sich selbst ist mehr als nur geschönt, bezeichnet sich doch die Europäische Union als der Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit. Ein hoher Anspruch, den es allerdings immer wieder in der Realität und im Alltag zu beweisen gälte und da gibt es in Europa derzeit allenthalben mehr als genug zu bemängeln.

Wo anfangen und wo aufhören mit der Aufzählung des in Europa begangenen Unrechts?  Von der Türkei über Russland, bis hin zu den EU-Balkanstaaten, aber eben auch den kerneuropäischen EU- Grenzstaaten Griechenland, Malta, Italien und Spanien. Alle ignorieren sie heute noch und schon wieder das Recht auf Rechte, das Hannah Arendt in Reaktion auf das Unrecht des Nationalsozialismus, als das grundlegende aller Menschenrechte bezeichnete. Dies geschieht zum einen durch die Exterritorialisieren der Grenzregime, also durch die Unterstützung von Unrechtsstaaten wie Eritrea, Äthiopien und Mauretanien, die mit millionenschweren und hochtechnologischen Sicherheitsprogrammen der Europäischen Union ausgerüstet werden und diese Technologien selbstredend auch gegen ihre eigene Opposition einsetzen. Aber selbst wenn die Menschen die schweren und für viele tödlichen, und an Leib und Seele schädlichen Weg vom südlichen Afrika an die nördlichen Küsten geschafft haben und meinen, sich in den Raum des Rechts gerettet zu haben, werden ihre Menschenrechte missachtet – nunmehr von den Europäern selbst.

Trotz mehrfacher flüchtlingsschützender Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfolgen immer wieder Kollektivausweisungen, sogenannte Push Backs[8]. Italien wie Spanien stellen – mit Rückendeckung von Deutschland, der Schweiz und Frankreich das Recht als Ordnungsprinzip und vor allem als Prinzip für die am meisten Schutzbedürftigen immer wieder zur Disposition. In diesem Kampf der Iuventa und ihre Verbündeten geht es also nicht nur um die Solidarität mit den Geflüchteten, darum Einzelne zu retten und die Misshandlung Vieler anzuprangern, sondern es geht grundsätzlich darum, dass das Recht denjenigen zur Seite stehen muss, die von Mächtigen und von mächtigen Staaten drangsaliert werden.

Die Crew der Iuventa, ihrer Mutterorganisation «Jugend Rettet» und all derjenigen, die hier versammelt und die sich im Geiste mit den hier Versammelten verbunden sehen, haben den Kampf um die politische Verfasstheit Europas und um das Recht auf Rechte aller angenommen. Es ist ein Kampf, der im Kleinen und im Großen gleichermaßen stattfindet, im hier und jetzt und das zum Teil unter hohem Risiko. Lassen Sie uns alle dafür sorgen, dass die Abschreckungspolitik der EU-Staaten gegen die Flüchtlingssolidarität nicht funktioniert, dass das Kalkül derer nicht aufgeht, die vom politischen großen Ganzen ablenken wollen, unsere Kräfte in reiner Antirepressionsarbeit binden wollen. Lasst uns solidarisch mit ihnen sein, sie materiell[9] und ideell unterstützen. Lassen Sie uns aber auch alle politisch dafür kämpfen, dass alle Menschen, nicht nur in Europa, in ihren politischen wie bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten gleichermaßen geachtet werden.


[1] Vgl. die Arbeiten von Stefan Keller, insbesondere Grüningers Fall, fünfte Auflage, Zürich 2014

[2] Die folgenden Zitate sind seiner Gedenkrede vom 9.9.2018 in Linz entnommen, siehe https://www.zeit.de/2018/38/nationalsozialismus-daniel-kehlmann-vater

[3] https://jugendrettet.org/en/

[4] Vgl. zur Geschichte der Iuventa und ihrer Kriminalisierung: https://solidarity-at-sea.org/?lang=de

[5] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-05/seenotrettung-iuventa-mittelmeer-matteo-salvini-italien-fluechtlinge

[6] abrufbar auf der Website von Forensic Architecture, ebenso wie auf der Website der Iuventa https://forensic-architecture.org/investigation/the-seizure-of-the-iuventa

[7] Vgl. die Zusammenstellung bei Todesursache Flucht. Eine unvollständige Liste, Berlin 2018

[8] Vgl. die EGMR-Entscheidungen Hirsi ./. Italien sowie meiner Organisation und ND und NT ./. Spanien, https://www.ecchr.eu/fall/der-fall-nd-und-nt-gegen-spanien/

[9] Hier das Spendenkonto https://solidarity-at-sea.org/donate/?lang=de