Die Flüchtlinge, Paul Grüninger und die Erinnerungspolitik

Gespräch am St. Galler Montagsforum vom 27. Februar 2023 mit Lea Haller, Stefan Keller und Paul Rechsteiner.

Lea Haller ist Redaktionsleiterin von «NZZ-Geschichte», Stefan Keller ist Journalist und Autor des Buches «Grüningers Fall», Paul Rechsteiner ist ehemaliger Ständerat und Präsident der Paul Grüninger Stiftung.

Festrede zur Verleihung des Paul Grüninger Preises 2019 an die Crew des Rettungsschiffes Iuventa, St. Gallen, 10. Mai 2019

Von Wolfgang Kaleck, Rechtsanwalt, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Mitglied des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung

Liebe Crew der Iuventa, liebe anwesende Fluchthelferinnen und Fluchthelfer aus nah und fern, sehr geehrte Damen und Herren

1. Die erste Würdigung des heutigen Abends gebührt der Familie des 1972 in Armut verstorbenen Paul Grüninger, insbesondere  der Stiftungsratsvorsitzenden der Paul Grüninger Stiftung und Tochter von Grüninger, Ruth Roduner sowie ihrem Rechtsanwalt Paul Rechsteiner. In einer jahrzehntelangen rechtlichen und politischen Auseinandersetzung erstritten sie die längst überfällige Rehabilitierung des von der St. Galler Regierung fristlos entlassenen und später sogar verurteilten Paul Grüninger.[1] Mit der finanziellen Entschädigung konnten 1998 die Paul Grüninger Stiftung und der Preis etabliert und damit ein auch heute wertvoller öffentlicher Raum geschaffen werden. Dafür gebührt Ihnen unser herzlicher Dank.

2. Bisher wurde der Paul Grüninger Preis an AktivistInnen wie die spanische Landarbeitergewerkschaft SOC-SAT oder usbekische und kolumbianische Menschenrechtlerinnen verliehen. Auf Grund der aktuellen politischen Situation in Europa hatte sich der Stiftungsrat entschlossen, den Preis für besondere Menschlichkeit und besonderen Mut dieses Jahr an eine Person oder eine Gruppe zu vergeben, die dem Vermächtnis des Namensgeber Paul Grüninger besonders nahe steht, also solchen Menschen, die gefährdeten Individuen ermöglichen, sich in Sicherheit zu bringen und/oder in menschenwürdigen Bedingungen zu leben.

3. Keine Sorge, hier werden keine vorschnellen Vergleiche zur Situation Europas zur Zeit der nationalsozialistischer Herrschaft gezogen. Der österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann fand jüngst passende Worte für den Brückenschlag zwischen damals und heute gefunden[2]:

«Wenn man sich erinnert, dass das ‚Dritte Reich’ kein blasses Mahnwachen-Fantasiegespinst ist, sondern dass sich vor kurzer Zeit erst von diesem unseren Land aus die allerrealsten Flüchtlingsströme über Europa ergossen haben, Ströme von Verzweifelten, Entwurzelten und Entrechteten, die man von hier vertrieben hat und die dann draußen keiner aufnehmen wollte, dann beurteilt man vielleicht auch einen jungen Kanzler anders, dessen größter Stolz darin liegt, dass er im Bündnis mit dem Möchtegern-Diktator Ungarns im Stande war, verzweifelte Menschen ohne Heimat, Pass und Rechte, die mit Mühe das nackte Leben retten konnten, von unserem reichen Europa fernzuhalten.»

Der Schriftsteller erinnert an das Schicksal seines Vaters Michael Kehlmann, der zunächst im KZ Mauthausen gefangen war und dann 1939 um ein Haar an Bord eines der Flüchtlingsschiffe gegangen wäre, das zunächst nach Kuba und die USA ansteuerte und von dort aus wieder zurückgeschickt wurde – nach Europa, mit dem voraussehbaren Ergebnis, dass die meisten der Flüchtlinge ermordet wurden.

«Dass er, anders als ein Großteil seiner Familie überlebte, verdankte er höchstunwahrscheinlichen Zufällen. Hätten sich diese nicht ereignet – für die meisten Menschen gab es solche rettenden Zufälle nicht, stünde ich nicht vor Ihnen. Es ist eine schlichte Wahrheit. … Nicht vergessen was passiert ist, das heißt eben nicht nur an Jahrestagen in Konzentrationslagern … zu gedenken. Es heißt auch, Menschen zu helfen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes noch nicht vor langer Zeit.»

4. Es mag nicht üblich sein, aus Juryberatungen zu berichten, doch unsere  -kontroverse-  Diskussion hat es verdient. Nicht etwa, weil der Stiftungsrat grundsätzlich über die Kandidaturen und deren Einsatz für Menschenrechte und insbesondere für die Geflüchteten gestritten hätte. Nein, im Gegenteil, wir hätten gerne noch weitere Preise verliehen.

Denn das Bild, was die an die Stiftung übersandten Preisvorschläge vermittelten, war ein äußerst ermutigendes: Viele Menschen in ganz Europa setzen sich aus politischen, ethischen oder höchst individuellen Motiven für Geflüchtete ein, sei es in der Schweiz, in Deutschland oder insbesondere im Mittelmeerraum.

Aber wir haben heute auch von der Kehrseite der Medaille des vielfältigen gesellschaftlichen Engagements in Europa zu reden:

Der allenthalben in Europa erfolgenden Kriminalisierung von Solidarität und von Widerstand gegen eine menschenverachtende Flüchtlingspolitik.

5. Damit sind wir dann auch bei den Gründen für  die Auszeichnung der Crew der Iuventa:

Das Schiff wurde 2016 von der deutschen Nicht-Regierungsorganisation Jugend Rettet[3] gekauft und umgebaut, und war dann über ein Jahr lang im Mittelmeerraum eingesetzt, um gemeinsam mit Dutzenden weiterer Boote von anderen Organisationen, Tausende von schiffbrüchigen Flüchtlingen aufzunehmen. 2017 wurde dann die Iuventa im Hafen von Lampedusa von italienischen Behörden beschlagnahmt.

Nicht nur das: Seitdem wird ein in seinen Folgen noch nicht absehbares strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen derzeit 24 Personen, darunter zehn ehemalige Besatzungsmitglieder der Iuventa, geführt.[4]

Traurigerweise kein Einzelfall, wie die im letzten Jahr veröffentlichte Studie des Transnational Institute aus Amsterdam «The Shrinking Space for Solidarity with Migrants and Refugees: How the European Union and Member States target and criminalize defenders of the Rights of People on the Move» zeigt. 

Der Fall der Iuventa ist jedoch besonders hervorzuheben. Die italienische Justiz hat mit einem unverhältnismäßig hohen Einsatz strafrechtlicher und polizeilicher Ressourcen politische Zwecke verfolgt- das ist genau die Konstellation die der kritische Jurist Otto Kirchheimer in seinem Standardwerk als Politische Justiz bezeichnet.

Aufgrund von Zeugenaussagen von Mitarbeitern sogenannter Sicherheitsfirmen und später eingeschleuster verdeckter Ermittler wird eine Zusammenarbeit der Iuventa mit Schleppern aus Libyen behauptet. Damit wird nicht nur die Kriminalisierung der erwähnten 24 Personen, sondern die Denunzierung der gesamten Solidaritätsbewegung betrieben. Nicht zuletzt die diese Woche in «Die Zeit» und der «Wochenzeitung WOZ» erschienenen Artikel[5] über einen der Kronzeugen, nämlich den italienischen Sicherheitsmann Pietro Gallo, belegen, wie vor allem der heutige italienische Innenminister Matteo Salvini den Fall der Iuventa aus einem unmittelbar wahlpolitischen  Interesse konstruiert und benutzt hat, um sein eigenes dreckiges Süppchen zu kochen. Gallo hat mittlerweile öffentlich seine belastende Aussage stark revidiert.

Auch die von italienischen Behörden als Beweis für die Kooperation der Iuventa mit Schmugglern herangezogenen Videoaufnahmen sind falsch: Die in London ansässigen Gruppen Forensic Architecture und Forensic Oceanography haben mit einer dreidimensionalen Simulation auf der Basis von Videos und weiteren Informationen den Gegenbeweis angetreten[6].

6. Die Crew-Mitglieder hätten es aus Solidarität und aus Hochachtung für ihr menschliches und politisches Engagement verdient, hier im Einzelnen gewürdigt zu werden, doch möchte ich aber auch an dieser Stelle ihrem und unseren politischen Anliegen Rechnung tragen.

Das heutige Setting spricht für sich selbst. Es sind nicht nur die Grüninger Preis- und Ehrenpreisträger*innen versammelt, sondern viele andere, die ebenfalls für den Preis nominiert waren und sich aus unterschiedlichen Gründen gegen Kriminalisierung zur Wehr setzen und solche, die ihnen solidarisch Beistand leisten. Dies geschieht mit Unterstützung der Paul Grüninger Stiftung auf ausdrücklichen Wunsch der heutigen Preisträger*innen, denen es ausdrücklich nicht um das Abfeiern ihres eigenen Heroismus geht .

Denn so wichtig der unmittelbare menschliche Einsatz Einzelner und von Kollektiven von Einzelnen ist, als Beispiel, als Inspiration, als Mutmacher, geht es hier um das Ganze. Und das Ganze ist nicht nur die skandalöse Tatsache, dass der Friedensnobelpreisträger Europäische Union sich durch seine menschenverachtende Abschottungspolitik Tausende und Abertausende von Toten auf der Flucht nicht nur im Mittelmeerraum, allein hier sollen es 35.000 Menschen gewesen sein, und auf dem Weg dahin durch Nordafrika und das subsaharische Afrika schuldig gemacht hat[7]. Sondern auch die Zusammenarbeit mit notorischen Menschenrechtsverletzern, wie vor allem derzeit die Warlords von Libyen, von denen in einem lesenswerten Artikel im dieswöchigen Der Spiegel die Rede war.

Dies ist natürlich zu allererst ein politisches Problem und das erfahren wir alle in Europa wenige Wochen vor den Europawahlen immer wieder auf das schmerzlichste. Das Schicksal von Menschen, die sich aus Kriegsregionen wie Afghanistan, Irak oder Syrien, nach Europa flüchten, und auf der anderen Seite vor menschenunwürdigen Lebensbedingungen in Afrika hierher aufbrechen wird von faschistischen, rechten und populistischen Ideologen und Politikern instrumentalisiert wird. Sie wollen unsere Gesellschaften in zunehmend autokratische und undemokratische Regime umgestalten und dabei jegliche Solidarität mit den hierher Geflüchteten und ihren LeidensgenossInnen in ihren Ursprungsländern und -regionen fallenlassen.

Damit stellen die Salvinis und Orbans für die Geflüchteten, aber auch für uns alle eine unmittelbare Bedrohung dar- und als wenn das noch nicht genug wäre, vernebeln sie den eigentlichen Kein des Problems: das Verständnis dafür warum unsere Welt so aussieht wie sie gerade aussieht. Eine politische und ökonomische Analyse dessen, was zu der großen Flucht geführt hat, wäre so notwendig, um die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte hier in Europa zu verstehen: Der Wegfall von Millionen Arbeitsplätzen, die Entwertung von Arbeit, die zunehmende soziale Ungerechtigkeit und alles das, was wir als Auswirkungen eines digitalisierten und globalisierten Kapitalismus als Einzelne und als Gesellschaften derzeit erfahren.

Eine der immer wieder gehörten Argumente der alten und neuen Rechten in Europa ist die angebliche zivilisatorische Überlegenheit von Europa und der europäischen Tradition – eine Geschichtsblindheit sondergleichen. Nicht nur die Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts, etwa im Kongo oder in Namibia, werden dabei vollkommen ausgeblendet, sondern auch das Unrechtsregime gegen das sich Paul Grüninger gestellt hatte, der Nationalsozialismus.

Auch die heutige Sichtweise der Westeuropäer von sich selbst ist mehr als nur geschönt, bezeichnet sich doch die Europäische Union als der Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit. Ein hoher Anspruch, den es allerdings immer wieder in der Realität und im Alltag zu beweisen gälte und da gibt es in Europa derzeit allenthalben mehr als genug zu bemängeln.

Wo anfangen und wo aufhören mit der Aufzählung des in Europa begangenen Unrechts?  Von der Türkei über Russland, bis hin zu den EU-Balkanstaaten, aber eben auch den kerneuropäischen EU- Grenzstaaten Griechenland, Malta, Italien und Spanien. Alle ignorieren sie heute noch und schon wieder das Recht auf Rechte, das Hannah Arendt in Reaktion auf das Unrecht des Nationalsozialismus, als das grundlegende aller Menschenrechte bezeichnete. Dies geschieht zum einen durch die Exterritorialisieren der Grenzregime, also durch die Unterstützung von Unrechtsstaaten wie Eritrea, Äthiopien und Mauretanien, die mit millionenschweren und hochtechnologischen Sicherheitsprogrammen der Europäischen Union ausgerüstet werden und diese Technologien selbstredend auch gegen ihre eigene Opposition einsetzen. Aber selbst wenn die Menschen die schweren und für viele tödlichen, und an Leib und Seele schädlichen Weg vom südlichen Afrika an die nördlichen Küsten geschafft haben und meinen, sich in den Raum des Rechts gerettet zu haben, werden ihre Menschenrechte missachtet – nunmehr von den Europäern selbst.

Trotz mehrfacher flüchtlingsschützender Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfolgen immer wieder Kollektivausweisungen, sogenannte Push Backs[8]. Italien wie Spanien stellen – mit Rückendeckung von Deutschland, der Schweiz und Frankreich das Recht als Ordnungsprinzip und vor allem als Prinzip für die am meisten Schutzbedürftigen immer wieder zur Disposition. In diesem Kampf der Iuventa und ihre Verbündeten geht es also nicht nur um die Solidarität mit den Geflüchteten, darum Einzelne zu retten und die Misshandlung Vieler anzuprangern, sondern es geht grundsätzlich darum, dass das Recht denjenigen zur Seite stehen muss, die von Mächtigen und von mächtigen Staaten drangsaliert werden.

Die Crew der Iuventa, ihrer Mutterorganisation «Jugend Rettet» und all derjenigen, die hier versammelt und die sich im Geiste mit den hier Versammelten verbunden sehen, haben den Kampf um die politische Verfasstheit Europas und um das Recht auf Rechte aller angenommen. Es ist ein Kampf, der im Kleinen und im Großen gleichermaßen stattfindet, im hier und jetzt und das zum Teil unter hohem Risiko. Lassen Sie uns alle dafür sorgen, dass die Abschreckungspolitik der EU-Staaten gegen die Flüchtlingssolidarität nicht funktioniert, dass das Kalkül derer nicht aufgeht, die vom politischen großen Ganzen ablenken wollen, unsere Kräfte in reiner Antirepressionsarbeit binden wollen. Lasst uns solidarisch mit ihnen sein, sie materiell[9] und ideell unterstützen. Lassen Sie uns aber auch alle politisch dafür kämpfen, dass alle Menschen, nicht nur in Europa, in ihren politischen wie bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten gleichermaßen geachtet werden.


[1] Vgl. die Arbeiten von Stefan Keller, insbesondere Grüningers Fall, fünfte Auflage, Zürich 2014

[2] Die folgenden Zitate sind seiner Gedenkrede vom 9.9.2018 in Linz entnommen, siehe https://www.zeit.de/2018/38/nationalsozialismus-daniel-kehlmann-vater

[3] https://jugendrettet.org/en/

[4] Vgl. zur Geschichte der Iuventa und ihrer Kriminalisierung: https://solidarity-at-sea.org/?lang=de

[5] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-05/seenotrettung-iuventa-mittelmeer-matteo-salvini-italien-fluechtlinge

[6] abrufbar auf der Website von Forensic Architecture, ebenso wie auf der Website der Iuventa https://forensic-architecture.org/investigation/the-seizure-of-the-iuventa

[7] Vgl. die Zusammenstellung bei Todesursache Flucht. Eine unvollständige Liste, Berlin 2018

[8] Vgl. die EGMR-Entscheidungen Hirsi ./. Italien sowie meiner Organisation und ND und NT ./. Spanien, https://www.ecchr.eu/fall/der-fall-nd-und-nt-gegen-spanien/

[9] Hier das Spendenkonto https://solidarity-at-sea.org/donate/?lang=de

2023

Gallen, Berfenbar 2022

Xelata Paul Grueninger 2023

Vexwendina Serlêdanê

Xelat

Ji bo bîranîna Paul Grueninger (1891 – 1972), şefê berê yê polîsê kantona St. Gallen ku jiyana gelek penaberan rizgar kir, Weqfa Paul Grueninger, St. Gallen, xelatekê bi qederê 50.000 SFR dide ji bo mirovahî û wêrekiya derasayî (awarte).

Paul Grueninger kî bû?

Di salên 1938/1939an de, şefê Polîsê St. Gallenê tevî ku Swîsre sînorên xwe girtibû jî, wî destûr da wan ku bikevin kantona St. Gallen.

Di salên 1938/1939 de, şefê Polîsê St. Gallenê komîser Paul Grueninger jiyana sedan cihû û penaberên din ji çewsandin û tunekirina Naziyan xilas kir. Her çend Swîsre sînorên xwe girtibin jî, wî destûr da wan ku bikevin kantona St. Gallenê, bi vî awayî guh neda qanûnên federal û heta ji bo parastina penaberan qanûnên esasî bin pê kirin.

Di sala 1939’an de, Paul Grueninger bêyî agahdarî ji hêla hukûmeta kantonê ve ji kar hate derxistin.

Di sala 1940’ê de, ew ji hêla dadgeha herêmî ya Gallenê ve ji ber binpêkirina erkên ofîsa xwe û sextekirina belgeyên qanûnî hate mehkûmkirin. Ew ji her tiştê hat dûrxistin û paşê hat jibîrkirin. Heta dawiya jiyana xwe di nav xizaniyê de jiya.

Di sala 1993’an de, Paul Grueninger ji hêla hukûmeta St. Gallen ve hate biryardan ku ew bêguneh bû.

Di sala 1994’an de, Hikûmeta Federal a Swîsreyê daxuyaniyek da ku reşkirina ser navê Paul Grueninger were rakirin.

Di sala 1995’an de, dadgeha herêmî ya St. Gallenê dozeke nû vekir û di encamê de komîser Paul Grueninger beraet kir û mafên wî hatin vegerandin.

Di sala 1998’an de, meclîsa kantona St. Gallen tezmînatek pereyî pejirand û tezmînat da neviyên Paul Grueninger ji ber wendahiyên di meaş û daxwazên teqawidiyê de ku ji ber betalkirina wî bê agahdarî çêbûne. Neviyên wî hemû pereyê ji wir hatî bexşand fona Weqfa Paul Grueninger. Xelata Paul Grueninger bi tevahî ji hêla vê fonê ve tê fînansekirin.

Pîvanên ji bo Xelat

Xelata Paul Grueninger dê ji kes û rêxistinên ku xwe ji hêla mirovatiya berbiçav, wêrekiya berbiçav û bêalîbûna berbiçav ve nas dikin re were xelat kirin.

Mirovahî tê wateya têkoşînekê giştî ji bo mafên mirovan û her weha hevkariya kesên ku di bin tehdîd, çewsandin û cudakariyê de ne. 

Wêrekî tê wateya cesareta medenî di nav civakê de û her weha alîkariya bêberjewendî di jiyana taybet de.

Bêalîbûn tê wateya serxwebûna derûnî ya ji hêzên laîk, olî, aborî û siyasî û her wiha azadiya ji alîgiriyê ku di jiyana rojane de tê meşandin.

Xelata Paul Grueninger dê ji kes an rêxistinên ku ji bo cîhanek ku mirov di azadî û rûmetê de bijîn, her çiqas xetereyên şexsî bi xwe re bîne jî beşdariyek girîng kirine were dayîn.

Di 2022/2023 de, Weqfa Paul Grueninger dê bi taybetî balê bikişîne ser kes û rêxistinên ku doza mafên jinan dikin.

Wergirtina xelata Paul Grueninger dê her gav tevlîbûneke pratîkî û nîşaneke zelal be. Xelata Paul Grueninger ne tenê piştgiriyek madî ye, mebesta wê ew e ku piştgirî bide xelatgiran di têkoşîna wan de, û hekê ew ji ber vê têkoşînê ceza girtibin an jî tehde dîtibin, Xelata Paul Grueninger armanc dike ku li piştgiriya xelatgiran zêde bike.

Juriyê

Xelata Paul Grueninger an ji aliyê lîjneya rêvebir ya Weqfa Paul Grueninger ve tê dayîn piştî destnîşankirina komîsyoneke xelatê ku ji aliyê meclisa rêvebir ve tê hilbijartin, an jî rasterast bi rêya lîjneya rêveber bixwe. Endamên meclîsa rêveberiyê yên heyî ev in:

  • Paul Rechsteiner, parêzer, Serokê Weqfa Paul Grueninger, St. Gallen
  • Dieter Roduner, mamosteyê dibistana navîn, neviyê rehmetî Paul Grueninger û hev-damezrîner, Wagen
  • Sarah Lanz-Roduner, bijîjk, neviyê dereng Paul Grueninger, Herisau
  • Stefan Keller, rojnamevan û cîgirê serokê Weqfa Paul Grueninger, Zurich
  • Valérie Boillat, dîroknas, Cenevre
  • Nils de Dardel, parêzer, Cenevre
  • Madeleine Dreyfus, psîkoanalîst, Zurich
  • Dorothee Elmiger, nivîskar, New York
  • Wolfgang Kaleck, parêzer, sekreterê giştî yê ECCH, Navenda Ewropî ya Destûrî û Mafên Mirovan, Berlîn
  • Tina Leisch, derhêner, Viyana
  • Jacques Picard, profesorê navdar ê Dîrok û Çandên Cihûyên Nûjen, Basel
  • Martin Pollack, nivîskar, Bocksdorf
  • Kaspar Surber, rojnamevan, St. Gallen û Zurich
  • Dina Wyler, zanyarê siyasî, Zurich

Serlêdanên baş hatine amadekirin û belgekirî yên ji bo xelata sala 2023’an divê di zûtirîn demê de werin şandin, lê herî direng divê heta 20ê Sibata 2023’an bigihêje ofîsa St. Gallen ya Weqfa Paul Grueninger.

Navnîşan:

Weqfa Paul Grueninger
Paul Rechsteiner
Oberer Graben 44
CH-9000 St

Swîsre

sekretariat@paul-gruninger.ch
http://www.paul-grueninger.ch

Kes û her weha rêxistin dikarin serlêdan û pêşniyaran bikin.

2023

Paul Grueninger Ödülü 2023

Başvuru Daveti. Gallen, Aralık 2022

Ödül

Gallen kanton polis teşkilatının eski şefi olan ve pek çok mültecinin hayatını kurtaran Paul Grueninger’in (1891 – 1972) anısına, Paul Grueninger Vakfı, olağanüstü insanlık ve olağanüstü cesaret için 50.000 SFR ödül veriyor.

Paul Grueninger kimdi?

Gallen Emniyet Müdürü Yüzbaşı Paul Grueninger, 1938/1939 yıllarında yüzlerce Yahudi ve diğer mültecinin hayatını Nazi zulmünden ve imhasından kurtarmıştır. İsviçre sınırlarını kapatmış olmasına rağmen, mültecileri korumak için federal direktifleri hiçe sayarak ve hatta yasal düzenlemeleri ihlal ederek onların St. Gallen kantonuna giriş yapmasını sağladı.

Paul Grueninger 1939 yılında kanton hükümeti tarafından haber verilmeksizin işten çıkarıldı.

Gallen Bölge Mahkemesi tarafından 1940 yılında görevinin gereklerini yerine getirmemekten ve yasal belgelerde tahrifat yapmaktan suçlu bulundu. Dışlandı ve daha sonra unutuldu. Hayatının geri kalanında yoksulluk içinde yaşadı.

Paul Grueninger 1993 yılında St. Gallen hükümeti tarafından haklı bulundu.

1994 yılında İsviçre Federal Hükümeti, Paul Grueninger’in adını kamuoyunda temize çıkarmak için bir bildiri yayınladı.

Gallen Bölge Mahkemesi 1995 yılında Yüzbaşı Paul Grueninger’in davasını yeniden açarak ve beraatine karar vererek itibarını iade etmiştir.

Gallen Kanton Parlamentosu 1998 yılında Paul Grueninger’in haber verilmeksizin işten çıkarılması nedeniyle maaş ve emeklilik haklarında meydana gelen kayıplar için Paul Grueninger’in torunlarına tazminat ödenmesini onayladı. Torunları toplam tutarı Paul Grueninger Vakfı’na devretti. Paul Grueninger Ödülü tamamen bu Fon tarafından finanse edilmektedir.

Ödül için Kriterler

Paul Grueninger Ödülü, kendilerini olağanüstü insanlık, olağanüstü cesaret ve olağanüstü tarafsızlıkla öne çıkaran kişi ve kuruluşlara verilecektir.

İnsanlık, genel olarak insan haklarına bağlılığın yanı sıra tehdit altında olan, zulüm gören ve ayrımcılığa uğrayan insanlara bağlılık anlamına gelir.

Cesaret, kamusal alanda medeni cesaret, özel alanda ise fedakârca yardım anlamına gelir.

Tarafsızlık, seküler, dini, ekonomik ve siyasi iktidarlardan zihinsel bağımsızlığın yanı sıra gündelik yaşamda ortaya çıkan önyargılardan kendini kurtartmış olmak anlamına gelir.

Paul Grueninger Ödülü, insanların özgürlük ve haysiyet içinde yaşayabilecekleri bir dünya için kendileri için risk oluşturmasına rağmen önemli katkılarda bulunan kişi veya kuruluşlara verilecektir.

Paul Grueninger Vakfı, 2022/2023 yıllarında özellikle kadın haklarını savunan kişi ve kuruluşlara odaklanacaktır.

Paul Grueninger Ödülü’nün verilmesi her zaman pratik bir müdahale ve açık bir işaret olacaktır. Paul Grueninger Ödülü, sadece maddi bir katkı olmaktan çok, ödül sahiplerini taahhütlerinde desteklemeyi ve bu taahhütleri nedeniyle mağduriyet yaşamaları halinde, ödül sahiplerinin kamuoyunda haklı çıkmalarına katkıda bulunmayı amaçlamaktadır.

Jüri

Paul Grueninger Ödülü, Paul Grueninger Vakfı’nın yürütme kurulu tarafından seçilecek bir ödül komisyonunun aday gösterilmesinin ardından ya da doğrudan yürütme kurulunun kendisi tarafından verilir. Yürütme konseyinin mevcut üyeleri şunlardır:

  • Paul Rechsteiner, avukat, Paul Grueninger Vakfı Başkanı, St. Gallen
  • Dieter Roduner, ortaokul öğretmeni, merhum Paul Grueninger’in torunu ve Wagen’in kurucu ortağı
  • Sarah Lanz-Roduner, doktor, merhum Paul Grueninger’in torununun torunu, Herisau
  • Stefan Keller, gazeteci ve Paul Grueninger Vakfı Başkan Yardımcısı, Zürih
  • Valérie Boillat, tarihçi, Cenevre
  • Nils de Dardel, avukat, Cenevre
  • Madeleine Dreyfus, psikanalist, Zürih
  • Dorothee Elmiger, yazar, New York
  • Wolfgang Kaleck, avukat, genel sekreter ECCH, Avrupa Anayasal ve İnsan Hakları Merkezi, Berlin
  • Tina Leisch, yönetmen, Viyana
  • Jacques Picard, Modern Yahudi Tarihi ve Kültürleri Emeritus Profesörü, Basel
  • Martin Pollack, yazar, Bocksdorf
  • Kaspar Surber, gazeteci, St. Gallen ve Zürih
  • Dina Wyler, siyaset bilimci, Zürih

Paul Grueninger Vakfı’nın Gallen’deki ofisine 2023 ödülü için sağlam temellere dayanan ve iyi belgelenmiş başvuruların mümkün olan en kısa sürede, ancak en geç 20 Şubat 2023 tarihine kadar yapılması gerekmektedir.

Paul Grueninger Vakfı
Paul Rechsteiner
Oberer Graben 44
CH-9000 St. Gallen

İsviçre

sekretariat@paul-grueninger.ch
http://www.paul-grueninger.ch

Bireylerin yanı sıra kuruluşlar da başvuru ve teklif sunma hakkına sahiptir.

Martin Pollack: Festrede zur Verleihung des Paul Grüninger Preises 2023 an Paula Weremiuk

Martin Pollack in St. Gallen, 17. November 2023
Foto: Urs Bucher/ubupix.com

Martin Pollack, Schriftsteller, Bocksdorf und Wien, Mitglied des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung

Das Salz der Erde

Wir leben in einer Welt, die zunehmend aus den Fugen zu geraten scheint. In einer «unglaublich rohen und doch wunderbaren Welt», wie mir eine ukrainische Freundin vor ein paar Tagen geschrieben hat. Sie ist in L’viv zu Hause und weiß, wovon sie spricht. Auf den ersten Blick scheinen die negativen, oft beängstigenden Erscheinungen zu überwiegen. Der Angriffskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine und der Krieg im Nahen Osten, der auch in unseren Ländern zu bedenklichen Verwerfungen führt, eine die ganze Welt erfassende Klimakrise, verheerende Umweltkatastrophen, die breite Landstriche unbewohnbar machen, die Schwächung und Aushöhlung demokratischer Systeme zugunsten totalitärer Tendenzen und diktatorischer Regime, die Grund- und Menschenrechte mit Füßen treten, bedrohlich anschwellende Flüchtlingsströme, denen auch in Europa vielerorts wachsender Fremdenhass und Ablehnung entgegenschlagen, die Armut und Verelendung immer breiterer Schichten …

Tatsächlich könnte der Eindruck entstehen, wir steuerten hilf- und haltlos wie Lemminge auf den Abgrund zu. Doch wir dürfen nicht resignieren und den Kopf hängen lassen, denn es gibt immer wieder auch lichte Momente und Anlass zur Hoffnung. Dazu zählen Personen, die sich aus eigenem Antrieb, nur ihrem Gewissen verpflichtet, für Menchen einsetzen, die auf der Suche nach Schutz vor Krieg und Verfolgung ihre Heimat verlassen müssen.

Dabei denken wir sofort an die unbeugsame Haltung des Schweizer Polizeihauptmannes Paul Grüninger, des Namensgebers des heute zu verleihenden Preises, der in der Zeit des Nationalsozialismus, offizielle Weisungen und Befehle missachtend, zahlreiche Juden vor den NS-Mördern gerettet hat, wofür er vom eigenen Staat hart bestraft, eingesperrt und entrechtet wurde. Ihm und seiner Familie, die den Menschenrechtspreis ermöglicht, gilt unser Dank.

Der Paul-Grüninger Preis 2023 wurde von der Jury der polnischenLehrerin Paula Weremiuk zugesprochen, die diese Auszeichnung für ihren selbstlosen und mutigen Einsatz für die humanitäre Flüchtlingshilfe an der polnisch-belarussischen Grenze bekommt, ganz im Sinne von Paul Grüninger.

Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass die Ereignisse an der Grenze angesichts der Kriegshandlungen in der Ukraine und jetzt im Nahen Osten, gekennzeichnet von unsäglicher Brutalität und Menschenverachtung, zunehmend in den blinden Winkel unserer Aufmerksamkeit geraten. Das erscheint verständlich. Doch es verbietet sich, Verstöße gegen die fundamentalsten Menschenrechte gegeneinander aufzurechnen und abzuwägen, welche Leiden schwerer wiegen und wert sind, öffentlich gemacht und angeprangert zu werden. Menschenrechte sind keine Ware, die gewogen und gewertet, vielleicht sogar abgewertet werden kann.

Also Paula Weremiuk. Dazu zunächst einige Hintergrundinformationen, um das Wirken der heutigen Preisträgerin, die wir an dieser Stelle ganz herzlich beglückwünschen wollen, besser einordnen zu können. Der belarussische Diktator Aleksandar Lukaschenka lockt seit Sommer 2021 Scharen ahnungsloser Flüchtlinge, die meisten aus Syrien, Afghanistan, Äthiopien, dem Sudan und anderen afrikanischen Ländern, mit dem Versprechen in sein Land, von hier aus sei es ein Leichtes, über die polnische Grenze und von dort weiter in Sehnsuchtsländer wie Deutschland, Frankreich, England oder Schweden zu gelangen. Dort haben viele Familienangehörige und Freunde, die ihnen beim Start in ein neues Leben helfen sollen. Eine niederträchtige, nicht selten tödliche Falle. In Wirklichkeit geraten die Flüchtlinge in eine Spirale der Gewalt, neuerlicher Verfolgung und Ausweglosigkeit, in der viele resignieren und aufgeben. Eine Schande für Europa.

Die Absichten des belarussischen Diktators sind klar. Zum einen lässt sich an den Flüchtlingen prächtig verdienen, anderseits sollen die unkontrollierten Flüchtlingsströme in Absprache mit Putin das freie Europa spalten und destabilisieren. Das radikal nationalistische und europaskeptische PiS-Regime in Polen (PiS steht ironischerweise ausgerechnet für Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit,) unterstützt von der fundamentalistischen katholischen Kirche, leistet der zynischen Politik der beiden Diktatoren Vorschub, indem es seinerseits die Flüchtlingskrise skrupellos instrumentalisiert, um nach dem Vorbild von Orbáns Ungarn fremdenfeindliche Ressentiments in der Gesellschaft zu schüren und auf diese Weise den Weg in Richtung einer autoritären Herrschaft zu ebnen.

Mit der Niederlage der PiS bei den jüngsten Wahlen wurden diese Pläne durchkreuzt. Doch die bisherigen Regierenden klammern sich verzweifelt an die Macht. Zu dem Zeitpunkt, da ich diese Worte schreibe, ist der Machtkampf in Polen noch nicht endgültig entschieden, obwohl alle Zeichen darauf hindeuten, dass die reaktionären Kräfte ausgespielt haben. Es ist zu hoffen, dass die zu bildende neue Regierung auch in der Flüchtlingspolitik einen radikal neuen Kurs einschlägt und sich darauf besinnt, dass Polen ein unverzichtbares Mitglied des freien, demokratischen Europas ist. Das wünschen wir aus ganzem Herzen auch Paula Weremiuk, die sich ungeachtet aller offiziellen Hindernisse und Schikanen für Menschen aus fremden Ländern einsetzt, auch wenn sie sich damit selber in Gefahr bringt.

Paulina oder auch Paula Weremiuk, sie selber verwendet beide Versionen des Vornamens, was bei uns anfangs für einige Verwirrung sorgte, stammt aus der kleinen zweisprachigen Gemeinde Narewka am Rande des Urwalds von Białowieża, der von der polnisch-belarussischen Grenze durchschnitten wird. Dort unterrichtet sie seit Jahren in der Grundschule Englisch und setzt sich für Belange der Schülerinnen und Schüler ein, organisiert außerschulische Aktivitäten und Events und einen regen Austausch mit Schülern und Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der im Holocaust augelöschten jüdischen Gemeinde ihres Heimatortes und der Umgebung, der Erinnerung an die jüdischen Nachbarn und die Erhaltung der Kultur und Geschichte der Juden. Das ist angesichts des in Polen grassierenden und oft von offiziellen Stellen geschürten Antisemitismus keine Selbstverständlichkeit und verlangt einigen Mut. Paula organisiert an der Schule Erziehungsprogramme, Film-Workshops, in denen kurze Streifen zur Geschichte der Juden in der Region erarbeitet werden, Ausflüge und die Zusammenarbeit mit einer Schule in Israel, deren Schüler alle zwei Jahre nach Narewka kommen, um hier mit Gleichaltrigen zu diskutieren und zu feiern, «damit die schmerzhafte Vergangenheit nicht für immer einen Schatten auf unsere polnisch-jüdischen Beziehungen werfen möge», wie Paula das ausdrückt.

Mit Beginn der Flüchtlingskrise in der Region von Białowieża begann Paula an ihrer Schule Arbeitskreise zum Thema Toleranz und Völkerverständigung einzurichten und mit ihren Schülern darüber zu sprechen, was an der Grenze geschieht. Seit Herbst 2021 engagiert sie sich aktiv für Flüchtlinge, die völlig unvorbereitet, ungenügend bekleidet, ohne ausreichende Nahrung und Wasser, ohne Kenntnis der unwirtlichen Verhältnisse von belarussischen Beamten über die Grenze getrieben werden, um orientierungslos durch den unwegsamen, von Sümpfen, Flüssen und Bächen durchzogenen Urwald zu irren. Männer, Frauen, Kinder, alte Menschen, hilflos den feindlichen Elementen ausgesetzt, Regen, Eis und Schnee. Paula versuchte nach Kräften diesen verzweifelten Menschen zu helfen, sie brachte ihnen im Schutz der Nacht, um den wachsamen Blicken der Grenzer zu entgehen, warmes Essen, Kleidung, Medikamente und Verbandszeug, versorgte die schlimmsten Wunden und klärte sie über ihre Rechte und Möglichkeiten auf, soweit das unter diesen Bedingungen möglich ist.

Die polnischen Grenzbeamten, unterstützt von Polizei und Militär, haben Weisung, entgegen internationalen Vereinbarungen keine Asylansuchen anzunehmen, sondern die Menschen, oft schwer verletzt, mit Erfrierungen, halb verhungert und verdurstet, in den Urwald zurückzutreiben, zurück über die belarussische Grenze. Ungeachtet aller Bitten um Asyl und Hilfe. Die belarussischen Grenzbeamten und Soldaten, noch brutaler als ihre polnischen Kollegen, jagen die Flüchtlinge erbarmungslos wieder zurück. Damit beginnt ein grausames Spiel, die Menschen werden hin und hergeschoben, oft zigmal, hüben und drüben malträtiert und gequält, erniedrigt, ihrer spärlichen Habe beraubt und vergewaltigt.

Nach offiziellen Angaben sind bisher auf beiden Seiten der Grenze über 50 Menschen im Urwald ums Leben gekommen, die Dunkelziffer ist mit Sicherheit viel höher, da zahlreiche Opfer nie gefunden werden, spurlos in den Sümpfen verschwinden, in den Flüssen, im undurchdringlichen Dickicht. Hilfe von Seiten der Behörden haben die Migranten keine zu erwarten, im Gegenteil. Auf diese Weise sind viele oft wochenlang im Urwald unterwegs, geschwächt durch die Strapazen und die Bedingungen einer menscheinfeindlichen Umwelt.

Das Verb pushbackować, abgeleitet vom englischen pushback, zurückschieben, hat längst Eingang in die polnische Sprache gefunden. So rasch passt sich die Sprache den Bedingungen der Gesetzlosigkeit und Unmenschlichkeit an. Umso wichtiger ist das Engagement der Freiwilligen an der Grenze, die seit über zwei Jahren im Namen der Nächstenliebe und Solidarität unsägliche Strapazen und Risiken auf sich nehmen. Paula ist nicht allein, es gibt eine ganze Reihe Gleichgesinnter, manche in Gruppen tätig, andere auf eigene Faust handelnd. Spontane Kämpferinnen und Kämpfer für die Menschenlichkeit. Dadurch entsteht eine enge Gemeinschaft von engagierten Helferinnen und Helfern, viele von ihnen sehr jung: eine wichtige Voraussetzung und Stütze für die Zivilgesellschaft. Die Flüchtlingshilfe, die gleichzeitig den aktiven Widerstand gegen die Willkür der Staatsmacht signalisiert, ist, wie so oft in den Ländern, von denen hier die Rede ist, überwiegend weiblich.

Dafür ein Beispiel: Ich war leider nicht in der Lage, nach Polen zu reisen, um nach geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten für den Paul-Grüninger-Preis Ausschau zu halten. Hilfreich war die Lektüre unabhängiger Zeitungen, voran der «Gazeta Wyborcza», die umfassend und erschöpfend über die untragbare Situation der Flüchtlinge an der Grenze berichtet. Mindestens ebenso wichtig waren jedoch die wertvollen Hinweise und Informationen von Freunden und Bekannten, die schließlich den Namen Paulas ins Spiel brachten. Ich möchte hier Agata Ganiebna erwähnen, Kasia Leszczyńska, die heute unter uns weilt, so wie auch Urszula Glensk, Katarzyna Wappa, um nur ein paar Namen zu nennen. Ohne diese mutigen, engagierten Frauen, die sich nicht einschüchtern lassen und immer wieder die Stimme erheben, wären unsere Gesellschaften um vieles ärmer. Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, sie seien das Salz der Erde, von dem in der Bibel die Rede ist.

Natürlich wissen wir, dass Menschen wie Paula gegenüber der geballten Staatsmacht und der flüchtlingsfeindlichen Haltung eines Teils der Gesellschaft auf den ersten Blick nicht viel ausrichten können. Sie werden von den Behörden schikaniert und behindert, von Polizisten, Soldaten und Grenzern nach Möglichkeit von der Grenze ferngehalten, sind zahlreichen Kontrollen und Demütigungen ausgesetzt – und doch ist ihre Hilfe sehr wichtig, ein Beweis, dass es in einem System brutaler Gewalt und Menschenverachtung noch Empathie für den Nächsten gibt und die Bereitschaft, sich vorbehaltlos für ihn einzusetzen. Die Hilfe mag wie ein Tropfen auf einen heißen Stein erscheinen, doch sie flößt den zwischen den Grenzen gestrandeten Menschen Mut ein und läßt sie vielleicht nicht endgültig verzweifeln.

Warum setzen sich Menschen wie Paula solchen Mühen und Gefahren aus? Wie kommt eine junge Frau aus gesicherten Verhältnissen dazu, von einem Tag auf den anderen die Wärme und den Komfort ihres bisherigen Lebens aufs Spiel zu setzen und sich in ein Abenteuer zu stürzen, in dem es in Wahrheit um einen Grundbegriff der menschlichen Existenz geht, um die Verantwortung für den Nächsten, auch wenn dieser fremd erscheinen mag und von vielen, beeinflusst durch eine rabiat fremdenfeindliche Propaganda, abgelehnt, ja förmlich verteufelt wird?

Paula erzählt, wie es für sie begann. Sie war damals schon Lehrerin in Narewka, das war im Herbst 2021. «Ich machte mir Vorwürfe. dass ich normal esse, reise und lebe, dass ich in einem warmen Bett aufwache, während Menschen im Wald frieren. Ich empfand einen entsetzlichen Stress, ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich hatte damals keine Ahnung, dass es irgendwelche Hilfsaktionen gab. Ich wußte nur von einem grünen Licht (das hilfswillige Personen ins Fenster stellten) und beschloss, auch ein solches Licht anzuzünden, möglichst rasch, ohne viel zu wissen, nur von meinem Herzen geleitet. … Eines Nachts wachte ich auf und verspürte eine lähmende Angst. Ich lag im Bett und dachte darüber nach, was es mit dieser Angst auf sich hatte, ich analysierte, wovor ich überhaupt Angst hatte. Ich hatte keine Angst vor den Flüchtlingen, dass sie in mein Haus kämen, ich hatte vielmehr Angst vor meiner eigenen Reaktion und davor, dass ich völlig unvorbereitet war. … Niemand in der Arbeit wußte, dass ich mich so stark engagiert habe. Das wissen meine Eltern und ein paar der nächsten Freunde.»

Doch zurück zu den Geschehnissen im Urwald. Um die Flüchtlinge fernzuhalten, errichteten die polnischen Behörden auf einer Strecke von über 180 Kilometern einen Grenzzaun mitten im unwegsamen Waldgebiet, der anfangs als unüberwindlich galt. 5,5 Meter hohe Palisaden, so eng nebeneinander, dass ein Durchkommen für größere Tiere und Menschen unmöglich schien. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellte. Darauf wurde die Grenzsperre durch ein dichtes Geflecht von Widerhakensperrdraht, auch NATO-Draht genannt, verstärkt. Ein so teures wie sinnloses Unterfangen. Laut einem internen Bericht der Grenzbehörden, zitiert von der unabhängigen Tageszeitung «Gazeta Wyborcza», ist es zwischen Jänner und Mitte September 2023 aus Belarus kommenden Flüchtlingen in mehr als 30.000 Fällen gelungen, die Sperre zu überwinden. Viele von ihnen gelangten weiter nach Deutschland und andere Zielländer.

Der Grenzzaun bleibt jedoch gefährlich und tückisch. Der Draht reißt tiefe, schwer heilende Wunden, bei Menschen wie Tieren, die im Urwald leben und bis vor kurzem ungehindert durch das weitläufige Gebiet streifen konnten. Nun ist auch für Wildtiere, Rehe, Hirsche, Wildschweine, Bisons usw. die Grenzregion zu einem Todesstreifen geworden. Die polnischen Behörden nennen die mörderische Befestigungsanlage so zynisch wie verharmlosend «integrierte Ingenieursicherung».

Viele Menschen vergleichen die Zustände an der Grenze, die panische Angst der Flüchtlinge, die sich wie Vogelfreie im Mittelalter schutzlos der brutalen Willkür ihrer Verfolger ausgesetzt sehen, mit der Zeit des Holocaust, der in diesen Regionen wütete wie kaum anderswo. Natürlich sind die Umstände damals und heute nicht miteinander zu vergleichen, das verbietet sich. Doch gewisse menschenverachtende Ähnlichkeiten sind nicht zu übersehen. Auch damals wurden unschuldige Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft und ihres Aussehens erbarmunslos gejagt und mussten sich vor den Verfolgern und ihren lokalen Helfern verstecken.

Ein Flüchtlingshelfer, ein Kollege Paulas, kommentiert das in einem Interview mit dem polnischen Autor Mikołaj Grynberg, der in einem erschütternden Band Stimmen zur Situation an der Grenze gesammelt hat, voll Bitterkeit:

„Es stimmt nicht, dass wir (aus den damaligen Zeiten) die Schlussfolgerung gezogen hätten: Nie wieder Krieg, Verfolgungen und Pogrome. Das stimmt nicht, alles ist möglich, alles kann zurückkehren, wir können wieder dasselbe machen. Und vielleicht werden wir sogar schlimmer handeln.”

Das Buch trägt den Titel «Jezus umarł Polsce» «Jesus ist in Polen gestorben». Es ist zu wünschen, dass es rasch übersetzt wird.

Es sind die in vielen Fällen anonym bleibenden Helferinnen und Helfer an der Grenze, die uns hoffen lassen, dass sich die oben geäußerte düstere Befürchtung nicht bewahrheiten mögen. Paula ist eine von ihnen. Eine junge, mutige Frau, die Zeugin unmenschlicher Vorgänge geworden ist und, anders als viele ihrer Nachbarn und Bekannten nicht wegschaut, nicht weghört und den Schauergeschichten keinen Glauben schenkt, wonach die Flüchtlinge ins Land gekommen seien, um die Menschen zu berauben, Frauen zu vergewaltigen, Kinder zu schänden und ein islamistisches Regime zu errichten.

Wie weit die menschenverachtende Propaganda der PiS-Regierung und ihrer Anhänger dabei geht, hat sich vor kurzem am Beispiel der renommierten Regisseurin Agnieszka Holland gezeigt, die einen Film über die Zustände an der Grenze gedreht hat, mit dem unschuldigen Titel «Die grüne Grenze». Der Streifen wurde dreimal für den Oscar nominiert. In Polen löste der Film eine staatlich gelenkte Hasskampagne aus, die bis dahin unvorstellbare Ausmaße annahm. Holland wurde von höchsten Vertretern des Staates, voran dem Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro und Staatspräsident Andrzej Duda, wüst beschimpft und mit den übelsten Nazipropagandisten verglichen, dazu wurde ihr unterstellt, ihre Landsleute zu bespucken und in den Dreck zu ziehen und Propaganda für Putin zu machen. Dabei stört die schrillsten Kritiker natürlich nicht, dass sie den Film gar nicht gesehen hatten.

Es ist Menschen wie Paula zu verdanken, dass sie ein wenig Licht, einen Hoffnungsschimmer in diese Dunkelheit tragen. Dazu wollen wir ihr nochmals aus ganzem Herzen danken. Vielen Dank, Paula, Dir und Deinen Weggefährten, für die Du stellvertretend hier stehst, um diesen wohlverdienten Preis entgegenzunehmen.

Martin Pollack, im November 2023

Paula Weremiuk: Dankesrede

Paula Weremiuk in St. Gallen, 17. November 2023
Foto: Urs Bucher/ubupix.com

Paula Weremiuk, Paul Grüninger Preis 2023

«Let me please share some stories with you tonight»

Good evening Ladies & Gentlemen. It’s my great honor to be here with you all. Let me please share some stories with you tonight.

I live in Poland in a small cottage in the countrysite at the edge of the Primeval Bialowieza Forest, just about 10 kilometers from the Belarusian border. My generation was marked by the terrible evens of the IIWW. Stories about it I’ve heard from my grandma are still alive with me. Personally, I’ve always been moved by the history of Jews during those times. That’s why the attitude and actions of Paul Grüninger are so meaningful to me.

In September 2021 suddenly I heard about refugees from Middle East and Africa hiding in the nearby forests of our border. At first, I couldn’t believe it. For me, peace and happiness meant a small house in the countryside, for them peace and happiness meant running away from war, famine or ethnic persecution. I wasn’t able to close my eyes to their fate of being exposed to such difficult circumstances, hunger, violence, push backs and death at the border of my own homeland. My first step was to mark my house with the green light – the symbol of helping refuges. But soon that wasn’t enough.

Tonight I’d like to tell you about just three people of many I’ve met in the woods while providing humanitarian help. In the beginning of the crisis, together with a friend I went to support to a group of refugees. We brought them water, food, dry shoes and warm clothes. It was at night so we could only use the red flash light so that no one would see us. We had to be quick and quiet to not atract military or police attention. That night, for the first time in my life I saw a view that I only had known from war movies: wide open eyes and terrified look on one of the refugees face. It made my heart pound. I Still remember those eyes of a person who had to flee his country and now being in EU had to hide in the dark forest in order to protect his life. Saying goodbye to them he grabbed my hand, pulled me closer and with a desperation in his voice he was whispering: thank you, thank you, thank you. We both knew his life was in jeopardy.

One evening when I was in my bed and with a fever. My friend called me saying: Paula, are you well enough to get out of bed and pick us up from the forest? I went to pick them up and found out they had just provided help to a Kurdish woman who was pregnant and was dying. Later she and her unborn child passed away at the local hospital. Leaving behind a husband and five other children. Her name was Aveen.

Finally, just some time before today I provided aid to a 19 years old boy form Syria. For three days he was all alone in the Polish wild forest, totally wet, shivering from cold and fear, looking around with the eyes of a hunted animal. When he saw me he started to cry. He had been traveling with a group of 20 but they got attacked by some Polish man. The rest of group run away but this boy had a gun pointed at his head and a knife to his throat. The man stole all his money.

Three stories. First, right at the beginning of the humanitarian catastrophy and the last one – just few days ago. And between them, there have been thousands of people at the Polish Belarusian border. Thousands of people who have been sough after, caught by military forces and pushed back to Belarus. Many of them sick, with trench foot, hypothermia, digestive problems, cut wounds, broken limbs, beaten up, bitten by dogs, just to name a few. The distance they need to cover on foot is many kilometers in a very difficult terrain through the old natural forest full of deep swamps and fallen trees.

According to the numbers of just one of the humanitarian collectives called  Grupa Granica, since August 2021 there have been support requests from around 17 thousand people (1 thousand children including), 9 thousand people were provided with aid. Nobody really knows how many push back have been done but the Border Guard’s reports say there over 28 thousands push backs. There are around 150 people missing and 52 were found dead – including one child and seven women. The real number of refugees crossing the Polish – Belarusian border is unknown. It’s impossible to count. All we know is that the refugees‘ situation is horrible and fight for their life is real. That’s why, as the local people and activists, we try to do as much as we can to minimize the amount of deaths and tragedy on the Polish Belarusian border.

Standing here today, I’d like to express my big words of thank to Paul Grunninger Foundation for this great honor of bein here with you in remebrance of Paul Grunninger. Your sensitivity and care for the refugees at the Polish Belarusian border is extremely important. Thank you for the care you’ve been constantly showing for those who are mistreated, misjudges and persecuted for various reasons. I receive this prize with a humble heart. And for all of us involved in carrying support and aid during this humanitarian crisis happening at our border, let this prize be a symbol of faith, hope and love.

Thank you very much.

Paula Weremiuk, 17. November 2023

Paul Rechsteiner: Paul Grüninger Preis 2023

Paul Rechsteiner, Präsident Paul Grüninger Stiftung, Paula Weremiuk, Paul Grüninger Preisträgerin 2023, Berfin Gökkan, Anwältin der inhaftierten Ayşe Gökkan, die von der Stiftung mit einer Anerkennung ausgezeichnet wurde, Sarah Lanz-Roduner, Urenkelin von Paul Grüninger und Mitglied des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung. (von links nach rechts) am 17. November 2023 in St. Gallen
Foto: Urs Bucher/ubupix.com

Paul Rechsteiner, Präsident des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung

Begrüssung

Im Namen des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung begrüsse ich Sie herzlich zur Verleihung des Paul Grüninger Preises 2023. Gegründet wurde die Stiftung 1998, also vor exakt 25 Jahren.

Die Gründung der Stiftung war die Folge der politischen und rechtlichen Rehabilitierung von Paul Grüninger. Die Rehabilitierung musste über lange Jahre gegen enorme Widerstände erkämpft werden. Paul Grüninger selbst – er starb 1972 – konnte sie nicht mehr erleben. Seine Nachkommen, allen voran seine Tochter Ruth Roduner-Grüninger, entschieden sich, die Entschädigung für den entgangenen Lohn und die Pension in eine Stiftung einzubringen. Ruth Roduner, langjährige Präsidentin der Paul Grüninger Stiftung, ist Ende 2021 mit über 100 Jahren verstorben. Ihr Leben war mit dem ihres Vaters eng verknüpft. Ein Studium blieb ihr nach der Verfemung und fristlosen Entlassung ihres Vaters verwehrt. Im jahrzehntelangen Kampf für seine Rehabilitierung spielte sie eine entscheidende Rolle, wie sie auch die Tätigkeit der Stiftung in den ersten beiden Jahrzehnten massgebend prägte. Wir werden ihrem Mut, ihrer Klugheit, ihrer Liebenswürdigkeit ein ehrendes Andenken bewahren.

Mit dem heutigen Anlass wird der Paul Grüninger Preis zum achten Mal verliehen. Die bisherigen Preisverleihungen waren durchwegs Interventionen für mutiges und menschliches Verhalten in schwierigen Zeiten. Das ist heute nicht anders.

Unter den bisherigen Paul Grüninger Preisen möchte ich an dieser Stelle zwei herausgreifen, den ersten und den beim letzten Mal verliehenen. Der erste Paul Grüninger Preis ging 2001 an die afghanische Ärztin Sima Samar. Dies für den gefährlichen und selbstlosen Einsatz für Gesundheit und Bildung und gegen die Entrechtung von Frauen unter Bedingungen, die wir uns hier nur schwer vorstellen können. Heute müssen wir feststellen, dass die Verhältnisse in Afghanistan für Frauen schlimmer sind als je. Das hat vor kurzem dazu geführt, dass das Staatssekretariat für Migration seine Praxis geändert hat und afghanischen Frauen nun Asyl gewährt wird. Mit Blick auf die Entwicklung in Afghanistan ist die laufende Kampagne rechter Parteien und Medien gegen diese Praxisänderung und die Asylgewährung schwer verständlich.

Der letzte Paul Grüninger Preis, er wurde 2019 verliehen, ging an die Crew des Rettungsschiffs Iuventa auf dem Mittelmeer. Die Iuventa war 2016 in See gestochen, weil Italien seine Seenotrettungsaktion Mare Nostrum eingestellt hatte. Das Mittelmeer, historisch wie kaum eine andere Region ein Ort des wechselseitigen Austauschs verschiedener Gesellschaften, wurde für Europa zum Ort der Schande. Seenotrettung ist kein Verbrechen, sondern eine Verpflichtung nach internationalem See- und Menschenrecht. Trotzdem werden die Seenotretter als Kriminelle verfolgt. Bis heute gilt das auch für die Mitglieder der Iuventa-Crew. Die Prozesse in Süditalien dauern an. Umso wichtiger ist die Solidarität. Menschen retten kann kein Verbrechen sein. Ein Verbrechen ist es, Menschen in Seenot sterben zu lassen.

Der Paul Grüninger Preis dieses Jahres geht mit Paulina Weremiuk an eine mutige und menschlich handelnde Frau aus Narewka, einem Dorf im Nordosten Polens nahe dem Urwald Bialowieza an der Grenze zu Weissrussland. In dieser Region finden Vorgänge statt, über die hier kaum berichtet wird. Der österreichische Schriftsteller Martin Pollack, er kennt Polen wie nur wenige im deutschsprachigen Raum, wird Paulina Weremiuk als Mitglied des Stiftungsrates mit seiner Preisrede würdigen.

Wie schon vor vier Jahren hat der Stiftungsrat entschieden, mit Blick auf die zahlreichen gut begründeten Vorschläge, die auf die Preisausschreibung eingegangen sind, zusätzlich einen Anerkennungspreis auszurichten. Er geht dieses Jahr an die kurdische Feministin und Menschenrechtsverteidigerin Ayse Gökkan aus Nusaybin an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien. Ayse Gökkan ist wegen ihres Engagements derzeit inhaftiert. Die Verleihung des Anerkennungspreises ist deshalb auch eine konkrete Intervention der Solidarität. Gewürdigt wird sie für den Stiftungsrat von Tina Leisch, Regisseurin aus Wien. Weil Ayse Gökkan an der Preisverleihung nicht teilnehmen kann, wird an ihrer Stelle ihre Anwältin Berfin Gökkan den Preis entgegennehmen.

Geflüchtete Menschen werden in letzter Zeit, zum wiederholten Mal und noch verstärkt, zum Ziel politisch und medial orchestrierter Kampagnen, quer durch Europa. Europa sei von der Flüchtlingskrise 2015 «traumatisiert», kann man in einem Leitartikel eines führenden Mediums lesen. Traumatisiertes Opfer in der Flüchtlingsfrage sollen nun plötzlich die Wohlstandsgesellschaften in Europa sein, wo es zum Glück seit Jahrzehnten keine Gründe mehr gibt, in andere Länder und Kontinente zu fliehen. Ein blanker Zynismus mit Blick auf die Realitäten, mit den die Menschen konfrontiert sind, die sich heute gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Und angesichts des Schicksals, das Tausende von Geflüchteten auch an Europas Grenzen tagtäglich erfahren.

Politisch wird, auch das zum wiederholten Mal, versucht, den Umgang mit Geflüchteten zu externalisieren, sprich auszulagern. Und das nicht etwa durch eine bessere Unterstützung des chronisch unterfinanzierten UNHCR, der UNO-Flüchtlingshilfe, die oft nicht einmal mehr eine gute Versorgung mit Nahrungsmitteln, geschweige denn eine Schulbildung für die Kinder gewährleisten kann, die diesen Namen verdient. Sondern durch fragwürdige Deals mit Machthabern wie zum Beispiel in Tunesien mit einer miserablen Menschenrechtsbilanz.

Dieser Abend, die Verleihung des Paul Grüninger Preises, ist auch ein Anlass, andere Stimmen zum Klingen zu bringen. Es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur Fremdenfeindlichkeit bis hin zum Rassismus, sondern auch eine grosse Solidarität, eine Haltung und ein Handeln im Alltag, in Städten und in vielen Gemeinden, die das ausmachen, was eine lebendige und vielfältige Zivilgesellschaft auszeichnet. Und das nicht nur gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine, wo heute oft schon wieder vergessen ist, was in welchem Ausmass mit etwas gutem Willen in kurzer Zeit möglich wurde.

Die Geschichte zeigt, dass es eine ausschliessende Schweiz und eine solidarische Schweiz gab, ein ausschliessendes Europa und ein solidarisches. Für die betroffenen Menschen war immer die Solidarität entscheidend. 

Der Paul Grüninger Preis setzt ein Zeichen, dass wir uns in unserer Zeit bewähren müssen.

Paul Rechsteiner, 17. November 2023

Tina Leisch: Laudatio auf Ayşe Gökkan

Tina Leisch in St. Gallen, 17. November 2023
Foto: Urs Bucher/ubupix.com

Tina Leisch, Regisseurin in Wien, Mitglied des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung

Anerkennungspreis der Paul Grüninger Stiftung 2023

Nusaybin. Eine Stadt ungefähr so groß wie St. Gallen. Nur viel älter. Seit 3000 Jahren ist Nusaybin, – auf Kurdisch Nisêbîn, in der Antike Nisibis – ein Knotenpunkt von Handelsrouten, ein Berührungspunkt verschiedener Reiche, Religionen, Kulturen und Sprachen.

Seit vor hundert Jahren die Grenze zu Syrien direkt südlich der Stadt gezogen wurde, ist sie Teil der türkischen Republik, obwohl 80 Prozent der Bevölkerung im Alltag kurdisch sprechen und sich auch gar nicht als Türken identifizieren. Genauso wenig wie die Minderheiten der christlichen Aramäer:innen, der Araber:innen, der Armenier:innen, der assyrischen Christen.

2009 wird hier zum ersten Mal eine Frau ins Bürgermeisteramt gewählt und sie definiert dieses Amt ganz neu. Ob beim Einkaufen, auf der Strasse oder bei einer Hochzeit: Wo die Bürgermeisterin auftaucht, sammeln sich Menschen um sie herum und bitten sie um Rat und Hilfe.

Und ihr Blick nimmt als erstes die Frauen wahr, bestärkt sie, ermutigt sie zu reden, sich zu Wort zu melden. Und sie hört ihnen zu.

Das ist beileibe nicht selbstverständlich in einer Gesellschaft, in der die Männer das Sagen haben. Das Sagen und das Schauen. In einem sozialen Raum, der strukturiert und beherrscht ist vom männlichen Blick und den männlichen Gewohnheiten.

Durch diesen männlich definierten öffentlichen Raum der Stadt geht und fährt und schreitet und tanzt ein kleines weibliches Energiebündel. Eine fast allgegenwärtige Troubleshooterin, die Volksversammlungen einberuft, um die Menschen – Männer wie Frauen– dazu zu bewegen, ihre Probleme in die Runde zu werfen und gemeinsam Ideen für ihre Lösung zu entwickeln, die siedann umsetzen kann.

Kleine Probleme. Ein Nachbarschaftsstreit wird gelöst. Ein verdreckter Fluss wird saniert. Eine kaputte Wasserleitung, eine verstopfte Kanalisation werden repariert.

Und große Probleme. Die hohe Analphabetinnenrate: Sie organisiert Alphabetisierungskurse und eine Bibliothek für Frauen.

Dass Burschen und Männer in den Parks und auf den Plätzen Fussball spielen, Sport treiben, herumhängen, rauchend in der Wiese liegen können, Frauen aber nicht, in dieser doch traditionell muslimischen Gesellschaft: Sie schafft einen uneinsehbaren Frauenpark.

Dass alleinstehende und verwitwete Frauen eine Möglichkeit brauchen, Geld zu verdienen: Sie gründet einen Markt, auf dem Frauen ohne Standgebühren zu bezahlen, verkaufen dürfen.

Häusliche Gewalt: Sie läßt ein Frauenhaus einrichten, das Zuflucht und Beratung bietet.

Während ihrer Amtszeit hat die Gewalt gegen Frauen und die Zahl der Frauenmorde in der Türkei stark zugenommen, mehrere Hundert pro Jahr. In Nusaybin allerdings ging beides signifikant zurück. Im letzten Jahr ihrer Amtszeit gab es keinen einzigen Mord an Frauen im Distrikt Nusaybin.

Diese Bürgermeisterin, das war Ayşe Gökkan. Sie wurde 1965 im Dorf Kulince im Bezirk Suruç in Urfa geboren. Nach Abschluss der Volksschule besuchte sie das Gymnasium in Urfa. 1998 studierte sie Journalismus an der American University of Cyprus in Nordzypern und machte dort ihren Abschluss. Sie arbeitete als Journalistin für verschiedene überregionale Zeitungen insbesondere für die Zeitungen «Özgür Gündem» und «Azadiya Welat». Mit spitzer Feder schrieb sie an gegen das Patriarchat, das sie sich ganz wörtlich vom Leib hielt mithilfe von Selbstverteidigungstraining.

Sie war aktives Mitglied der Parteien HEP, DEP, HADEP, DEHAP, DTP, BDP, HDP und HEDEP. Das heißt aber nicht, dass sie alle zwei, drei Jahre die politische Meinung gewechselt hätte. In Wirklichkeit hat nicht Ayşe die Partei gewechselt, sondern die Partei hat den Namen gewechselt. Die größte prokurdische Partei in der Türkei wurde regelmäßig verboten und dann unter neuem Namen neu gegründet.

2009 wurde Ayşe Gökkan schließlich mit einem spektakulären Ergebnis von 83 Prozent zur Bürgermeisterin gewählt. Zentraler Fokus ihrer Arbeit war, Nusaybin zur «Frauenstadt» zu machen.

Dafür legt sie sich auch mit den Organen der Zentralregierung in Ankara an. Als Ayşe Gökkan Berichte von Frauen sammelt, die von Polizisten sexistisch belästigt oder bedroht wurden, und sich beim Gouverneur der Provinz beschwert und ihn auffordert, dem Einhalt zu gebieten, wird ihr das als unerhörter Akt der Rebellion ausgelegt. Ihr Akt füllt sich mit Strafanzeigen wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen, ihrer Verlautbarungen und Erklärungen, ihres Einsatzes für Frauenrechte, Kinderrechte, Menschenrechte.

Ein wichtiges Thema, das sie auf die politische Agenda setzte, war der Frauenhandel und das Leiden von Frauen aus Syrien, die gegen ihren Willen über die Grenze in die Türkei gebracht und da zwangsverheiratet werden. Wie kann man diese unfreiwilligen Ehefrauen erreichen, über ihre Rechte aufklären und ihnen spezielle Beratung und Hilfe anbieten? Und wie kommen diese Frauen zu ihren Familien zurück, wenn die türkische Regierung plötzlich den Grenzübergang zu der in den letzten 100 Jahren auf der syrischen Seite der Grenze gewachsenen Nachbarstadt Qamisli schließt?

2013 tauchen auf einmal von Panzern begleitete und bewachte Betonmischmaschinen an der Grenze auf. Ohne die Bürgermeisterin zu informieren, hat die türkische Regierung den Bau einer gigantischen Grenzmauer beschlossen. Es ist Krieg im Nachbarland Syrien. Die Flüchtlinge müssen abgewehrt werden. Die Empörung in der Bevölkerung ist groß. Der kleine Grenzverkehr, der Handel – und auch der Schmuggel – über die Grenze sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, viele Familie haben Angehörige auf der anderen Seite, aber vor allem ist die Solidarität der Bevölkerung mit den Kriegsflüchtlingen immens: Sie werden in den kurdischen Städten der Türkei mit offenen Armen willkommen geheißen und von den Gemeinden und der Bevölkerung versorgt. Die Empörung steigt weiter, als immer öfter dokumentiert wird, dass das türkische Militär zwar Flüchtlinge abweist und zurückschiebt, aber dschihaddistische Kämpfer, die über die Türkei in den Krieg nach Syrien ziehen, nicht nur durchläßt, sondern auch mit Waffen ausstattet. Die Bürgermeisterin Ayşe Gökkan protestiert. Sie macht einen Sitzstreik im Grenzstreifen, sitzt Tag und Nacht zwischen Panzern und Baufahrzeugen. Sie macht einen Hungerstreik, widersetzt sich den Anweisungen aus Ankara. Auch dieser Protest gegen die sogenannte «Mauer der Schande», gegen die «Berliner Mauer» quer durch Kurdistan trägt ihr Strafanzeigen und ein Gerichtsverfahren ein.

Es war ein Protest gegen die weitere Fortifikation einer vor hundert Jahren willkürlich von den Kolonialmächten gezogenen Grenze, einer unter der Vorherrschaft der Idee des ethnisch und sprachlich und religiös homogenen Nationalstaats gezogenen Grenze, einer Grenze «made in Switzerland» übrigens, in Lausanne nämlich, auch wenn die Schweiz keiner der Staaten war, die den Vertrag unterzeichneten. Einen Vertrag, den der damalige mitverhandelnde britische Außenminister als «eine durch und durch schlechte und böse Lösung, für welche die Welt während der nächsten hundert Jahre noch eine schwere Buße entrichten werde müssen» bezeichnet haben soll.

Einen Teil dieser Buße entrichtet heute Ayşe Gökkan.

2014 trat Ayşe Gökkan nicht wieder zur Wahl an. Sie wurde Sprecherin der Frauenorganisation «Tevgere Jinen Azad», «Freie Frauenbewegung», in der sie unter anderem ihre Erfahrungen in Nusaybin für eine feministische Lokalpolitik im ganzen Land fruchtbar machen möchte.

Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 gewann dann die linke prokurdische Partei HDP

über 13 Prozent der Stimmen und das kostete Erdogans AKP die absolute Mehrheit. Nicht zuletzt die vorbildliche Arbeit der kurdischen Bürgermeister:innen hat dazu beigetragen.

Die Reaktion der AKP-Regierung ist vernichtend. Ein Großteil der gewählten Bürgermeister*innen in den kurdischen Gebieten wurden ihres Amtes enthoben und durch von Ankara diktatorisch eingesetzte Zwangsverwalter ersetzt. Über zehntausend Menschen aus der legalen, zivilgesellschaftlichen, demokratischen Opposition wurden verhaftet. Tausende von Gewissensgefangenen sitzen heute in den türkischen Gefängnissen.

Auch Ayşe Gökkan. Im Januar 2021 wurde sie verhaftet und im Oktober desselben Jahres in erster Instanz zu 30 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde dann in einigen Punkten revidiert und beträgt jetzt noch 26 Jahre und 3 Monate. Mit der ehemaligen Bürgermeisterin von Diyarbakır Gülten Kişanak, mit den ehemaligen Parlamentsabgeordneten Ayla Akat und Sebahat Tuncel, mit Aynur Aşan, Zeynep Karaman und Dutzenden weiteren Frauen sitzt Ayşe Gökkan im Sinçan-Gefängnis in Ankara. Aber wie lange noch? Wirklich noch für Jahrzehnte?

Eine höchstrichterliche Entscheidung des türkischen Kassationsgerichtes steht noch aus. Das Verfahren liegt auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wenn dessen Urteil noch vor der höchstinstanzlichen Entscheidung in der Türkei gefällt würde, könnte es diese vielleicht positiv beeinflussen. Die europäische Aussenpolitik könnte die Einhaltung von Menschenrechten, Frauenrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien bei ihrem Gebahren mit der Türkei einfordern  und das heißt unter anderem die Freilassung der Gewissensgefangenen verlangen.

Die Verleihung eines Anerkennungspreises der Paul Grüninger Stiftung an Ayşe Gökkan für ihren mutigen Protest gegen den Bau einer Mauer durch Nusaybin gegen die aus Syrien Flüchtenden möchte gerne eine Schere sein, um die Haftzeit der politischen Gefangenen zu verkürzen.

Tina Leisch, im November 2023