Paul Grüninger Preis 2023 für eine polnische Lehrerin
Der Paul Grüninger Preis 2023 geht an die polnische Flüchtlingshelferin Paula Weremiuk. Die Preissumme beträgt 50 000 Franken. Eine Anerkennung in Höhe von 10 000 Franken richtet die Stiftung an die kurdische Menschenrechtsverteidigerin Ayşe Gökkan aus.
Paula Weremiuk
Seit 2021 ist die polnisch-belarussische Grenze Schauplatz eines Flüchtlingsdramas riesigen Ausmasses. Aufgrund einer politischen Strategie des belarussischen Diktators werden hier Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und aus Afrika zu Tausenden über die Grenze nach Polen getrieben, wo sie auf starke politische Ablehnung stossen. Es kommt häufig zu Pushbacks und zu brutaler Gewalt. Die Flüchtlinge, unter denen sich auch Frauen und Kleinkinder befinden, werden hin und her über die Grenze gejagt. Oft sind sie tage- und wochenlang im Grenzgebiet unterwegs. Immer wieder gibt es Todesfälle, meist durch Erfrieren oder durch Erschöpfung.
Ein Hotspot solcher Fluchttragödien ist die Region von Białowieża, die für Flüchtlinge besondere Gefahren birgt. Es handelt sich um eines der letzten Urwaldgebiete in Europa. Schwer zugänglich, ohne Wege und Strassen, durchzogen von ausgedehnten Sümpfen und Wasserläufen. Gefährliches Gelände für ortsunkundige, mangelhaft bekleidete und schlecht ausgerüstete Menschen. Verbürgt ist auch, dass Flüchtlinge von den Grenzschützern beraubt, misshandelt, vergewaltigt und hilflos ihrem Schicksal überlassen werden. Fluchthelferinnen und Fluchthelfer gehen von bisher rund 50 000 Pushbacks aus. Verlässlich Zahlen gibt es allerdings keine, die Behörden halten die Sache geheim.
Die Behörden unternehmen alles, um die Fluchthelfer zu schikanieren und nach Möglichkeit zu kriminalisieren. Weite Teile der Grenzzone wurden zum Sperrgebiet erklärt. Trotzdem finden sich mutige Menschen, die ihrem Gewissen folgen und versuchen, sie zu unterstützen. Sie machen sich auf die Suche nach Flüchtlingen in den Wäldern, versorgen diese mit Essen, Getränken, warmer Kleidung, Schlafsäcken und so weiter. Dabei müssen sie ständig damit rechnen, selber den Grenzschützern in die Hände zu fallen.
Eine herausragende Gestalt dieses zivilgesellschaftlichen Netzes der Flüchtlingshelferinnen und Flüchtlingshelfer ist die Englischlehrerin Paula Weremiuk aus Narewka, einem zweisprachigen Dorf im Nordosten Polens nahe dem Urwald Białowieża.
Paulina Weremiuk hat spontan und aus eigenem Antrieb zur Flüchtlingshilfe gefunden. Sie versorgt Menschen mit Kleidung, mit Essen und den notwendigsten Dingen. Sie macht sich in den unzugänglichen Gebieten von Białowieża auf die Suche nach Menschen in Not; allein oder gemeinsam mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten, in der Regel nachts, um nicht die Aufmerksamkeit von patrouillierenden Grenzschützern zu erregen, die das Gebiet engmaschig abgesperrt haben.
In Anerkennung ihrer Tätigkeit, die durch die politische Ablehnung von Flüchtlingen besonders erschwert wird, und als Zeichen gegen die menschenfeindliche Flüchtlingspolitik, die an Europas Grenzen betrieben wird, verleiht die Paul Grüninger Stiftung der polnischen Lehrerin Paulina Weremiuk den Paul Grüninger Preis 2023 in Höhe von 50 000 Franken.
Ayşe Gökkan
Einen Anerkennungspreis in der Höhe von 10 000 Franken hat die Stiftung gleichzeitig der kurdischen Feministin und Menschenrechtsverteidigerin Ayşe Gökkan zugesprochen. Ayşe Gökkan ist als Journalistin und als Aktivistin für die Frauenrechte besonders hervorgetreten. Seit fast vierzig Jahren schreibt sie Zeitungskolumnen gegen rassistische und geschlechtliche Diskriminierung, spricht auf nationalen und internationalen Podien und Seminaren, leitet Workshops zum Thema Geschlechterungleichheit und nimmt an friedlichen Demonstrationen in diesem Zusammenhang teil.
Von 2009 bis 2014 war Ayşe Gökkan Bürgermeisterin der kurdischen Stadt Nusaybin, die an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien liegt. Als die Türkei zwischen Nusaybin und der syrischen Nachbarstadt Quamisli eine Grenzmauer gegen Flüchtlinge zu errichten begann, protestierte die Bürgermeisterin gegen diese «Mauer der Schande» unter anderem mit einem Sitzstreik. Aufgrund ihres zivilgesellschaftlichen Engagements wurde Ayşe Gökkan in der Türkei bisher mehr als achtzig Mal verhaftet, mit mehr als zweihundert Ermittlungsverfahren überzogen und 2021 in einem grotesken Gerichtsverfahren aufgrund der Aussagen eines einzigen «geheimen Zeugen» wegen Mitgliedschaft in einer «terroristischen Vereinigung» zu mehr als 26 Jahren Gefängnis verurteilt. Sie ist Opfer der Kriminalisierung der politischen Opposition in der Türkei. Ayşe Gökkan befindet sich in Haft, ihr Urteil ist vom türkischen Kassationshof bisher nicht bestätigt, auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist ein Verfahren hängig.
Öffentliche Verleihung des Paul Grüninger Preises an Paula Weremiuk und der Anerkennung für Ayşe Gökkan am 17. November 2023, 19 Uhr, im Kulturzentrum Palace in St. Gallen. Ein Anlass in der Türkei für Ayşe Gökkan ist geplant.