Emigrantenschmuggler an der Schweizer Grenze

Stefan Keller

Der Text erschien erstmals in: Wolfram Wette [Hrsg.], «Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkriegs», Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2005)

Marie Grimm, Fluchthelferin, 1999

Am 20. Dezember 2004 starb in Genf die pensionierte Lehrerin Aimée Stitelmann-Stauffer, eine freundliche und bescheidene, fast achtzigjährige Frau. Wenige Monate vor ihrem Tod war Aimée Stitelmann für kurze Zeit berühmt geworden: Die «New York Times», «Le Monde», die «Süddeutsche Zeitung» und fast alle schweizerischen Blätter veröffentlichten Artikel über sie, denn Stitelmann gehörte zu jenen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg jüdische Flüchtlinge über die Grenze gerettet hatten und dafür von den Schweizer Behörden bestraft worden waren. Aimée Stitelmann-Stauffer war eine der letzten noch lebenden Fluchthelferinnen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Ausserdem war sie die erste, auf die ein neues, seit 1. Januar 2004 geltendes Gesetz angewandt worden ist: Im März 2004 beschloss eine Kommission der Eidgenössischen Räte – des Schweizer Parlamentes – Aimée Stitelmann formell zu rehabilitieren. Eine Strafe von achtzehn Tagen Arrest, die sie 1945 wegen illegalem Überschreiten der Grenze und wegen «Ungehorsam» abgesessen hatte, gilt seither als aufgehoben. Eine materielle Wiedergutmachung erhielt Frau Stitelmann jedoch nie.

Jüdischer Widerstand

Aimée Stitelmann war siebzehnjährig, als sie Ende 1942 die jüdischen Kinder Hella und Uriel Luft aus Berlin im französischen Annemasse abholte und über die Grenze ins nahe Genf begleitete. Die Kinder wurden von den Schweizer Behörden nicht zurückgeschickt; Jahre später wanderten sie nach Amerika aus, wo sie heute noch leben.

Ernst Bärtschi, Fluchthelfer und KZ-Überlebender, 1980

Zur Arbeit der Rehabilitationskommission der Schweizerischen Bundesversammlung

https://www.swissinfo.ch/ger/die-meisten-fluechtlingshelfer-sind-rehabilitiert/5944354

Aimée Stitelmann war damals Studentin und in der illegalen Flüchtlingsarbeit wenig erfahren. Bei ihrer ersten Hilfsaktion, so hat sie erzählt, trug sie Stöckelschuhe und helle Kleider, in denen sie nachts über die Grenze schlich. Sie war selber Jüdin. Geboren in Paris, besass sie eine schweizerisch-französische Doppelbürgerschaft, was ihr die illegale Tätigkeit erleichterte. Sie war Mitglied der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Haschomer Hazair; für diese hat sie ausser den Geschwistern Luft aus Berlin mehr als ein Dutzend Kinder und junge Erwachsene in die Schweiz gebracht. Gegen Kriegsende führte Aimée Stitelmann dann auf dem umgekehrten Weg zionistische Widerstandsleute aus Schweizer Internierungslagern ins befreite Frankreich zurück. Auch das war verboten, und am 22. März 1945 wurde sie zusammen mit dem 25-jährigen Basler Fluchthelfer Heini Bornstein, der heute in Israel lebt, und zusammen mit zwei flüchtigen Internierten von Schweizer Grenzwächtern verhaftet.[i]

Jüdische Fluchthelfer – Schlepper oder Passeure – riskierten im Zweiten Weltkrieg besonders viel. In Frankreich bekannt ist etwa der Fall der 1923 in Moskau geborenen Mila Racine, die am 21. Oktober 1943 in der Nähe von Annemasse bei Genf auf der französischen Seite der Grenze festgenommen wurde: gemeinsam mit einem zweiten Passeur, Roland Epstein, und, wie die Häscher notierten, mit «32 Judenkindern im Alter von 2 1/2 bis 18 Jahren». Mila Racine war im Auftrag des Mouvement de jeunesse sioniste – der Zionistischen Jugendbewegung – als Passeurin aktiv. Die 32 Kinder, die sie retten wollte, wurden mit ihren Helfern ins Sammellager Drancy bei Paris gebracht und von dort nach Auschwitz deportiert. Nur Roland Epstein kehrte aus dem Vernichtungslager zurück.[ii]

Bekannt ist auch der Fall der in Mannheim geborenen deutschen Emigrantin Marianne Cohn, die ebenfalls im Auftrag der Zionistischen Jugend Passagen für jüdische Kinder von Grenoble aus in die Schweiz übernahm. In dieser Funktion war sie offenbar die Nachfolgerin von Mila Racine und arbeitete mit deren Bruder Emmanuel Racine zusammen. Am 31. Mai 1944 hielten französische Beamte die 22-jährige Marianne Cohn sowie achtundzwanzig jüdische Kinder und Jugendliche in Grenznähe an und sperrten sie ins Gestapogefängnis «Hôtel Pax» von Annemasse. Der Bürgermeister dieser Stadt, Jean Deffaugt – ein Mann der Résistance – versuchte noch, Marianne Cohn einen Fluchtplan zu überbringen. Doch sie weigerte sich, die ihr anvertrauten Kinder zu verlassen. Am 8. Juli 1944 ist Marianne Cohn von Uniformierten nachts aus dem Gefängnis geholt und in einem Wald bei Annemasse mit Schlägen und Schüssen getötet worden. Die Kinder jedoch entkamen – dank dem Verhandlungsgeschick des Bürgermeisters Deffaugt – der nahezu sicheren Deportation. Sechs Wochen nach dem Tod von Marianne Cohn wurde Annemasse befreit.[iii]

Schweizer Abweisungspolitik

Drei Geschichten von jungen Frauen im Widerstand: drei Schicksale aus der Zeit, als die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ihrem Ende zuging und nur noch einige winzige Schlupflöcher übrig blieben, durch die ein Entrinnen möglich erschien. Die neutrale Schweizer Regierung hatte im August 1942 ihre Grenze für jüdische Flüchtlinge offiziell geschlossen und erklärt, Jüdinnen und Juden seien nicht politisch verfolgt, ein Asyl komme für sie nicht in Frage. Zumindest erwachsene jüdische Flüchtlinge sollten an der Schweizer Grenze abgewiesen werden. Wenn sie es aber schafften, illegal einzureisen, mussten sie mit ihrer sofortigen Rückstellung oder gar mit der Auslieferung an die SS rechnen. Dies obwohl die Schweizer Behörden 1942 schon recht gut Bescheid darüber wussten, was mit den Juden im deutschen Machtbereich geschah, und obwohl die Schweizer Presse zu jener Zeit über Deportationen «nach dem Osten» und über den «sicheren Untergang» der «verschwundenen» Juden berichtete.

In der Tat orientierte sich die Eidgenössische Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg mit wenigen Ausnahmen direkt am Rhythmus der nationalsozialistischen Rassenpolitik: Immer dann, wenn im Deutschen Reich oder in den besetzten Ländern neue antisemitische Massnahmen ergriffen wurden, wenn die Verfolgung zunahm und sich Menschen davor zu retten versuchten, verschärfte die Schweiz ihre Asylbestimmungen.

Bereits im August 1938 hatte der Schweizerische Bundesrat eine erste Einreisesperre für «nicht-arische» Flüchtlinge verhängt: Nach dem Anschluss Österreichs an das «Dritte Reich» im März 1938 fingen die neuen deutsch-österreichischen Behörden an, jüdische Einwohner massenhaft aus dem Land zu vertreiben. Die Schweizer Regierung antwortete darauf Ende März 1938 mit einer Visumspflicht für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Österreich, wobei laut einer Weisung von Bundesrat Johannes Baumann – dem Justiz- und Polizeiminister jener Zeit – grundsätzlich keine Visa an Juden abgegeben werden sollten. Am 18. und 19. August 1938 verfügte die Schweizer Regierung, Flüchtlinge aus Österreich ohne Visum seien an der Grenze ausnahmslos zurückzustellen. Und am 4. Oktober – einen Monat vor den Pogromen der «Reichskristallnacht» – stimmte der Bundesrat einem Abkommen mit Deutschland zu, in dem sich die deutsche Regierung verpflichtete, ihre Juden im Reisepass zu kennzeichnen («Juden-Stempel»). Gleichzeitig erliess die Schweiz eine Visumspflicht für alle mit einem derartigen Stempel gebrandmarkten Bürgerinnen und Bürger des Nazistaates.

1942 war die Vertreibungspolitik längst in eine Vernichtungs­politik übergegangen. Am 23. Oktober 1941 hatte man den Juden die Auswanderung aus dem «Dritten Reich» verboten, bis Februar 1942 dehnten die Nazis dieses Verbot auf alle besetzten Gebiete aus. Die Schweizer Fremdenpolizei konnte jetzt damit rechnen, dass jüdische Flüchtlinge bereits vor dem Grenzübertritt von deutschen oder französischen Beamten abgefangen wurden, während sie früher gelegentlich von SS-Leuten selber zum Schweizer Territorium geführt worden waren. Als im Sommer 1942 die flächendeckenden Razzien, Verhaftungen und Deportationen in Frankreich, Belgien und Holland eine weitere, unübersehbare Flüchtlingswelle auslösten, erneuerte die Schweizer Regierung die Grenzsperre für Juden. Ab sofort sollte die Abweisungspraxis wieder mit aller Unerbittlichkeit gehandhabt werden. Der 1940 gewählte Nachfolger von Johannes Baumann, Justiz- und Polizeiminister Bundesrat Eduard von Steiger, prägte Ende August 1942 den Satz vom vollen «Rettungsboot», welches keine zusätzlichen Schiffbrüchigen mehr aufnehmen könne, wenn es nicht selber untergehen wolle. Die in jeder Hinsicht falsche Metapher «Das Boot ist voll» des in behaglichen Verhältnissen lebenden Berner Aristokraten von Steiger fand Eingang ins nationale und später ins internationale kollektive Gedächtnis.[iv]

Auch die Geschichte der Fluchthelferinnen und Fluchthelfer im Nationalsozialismus folgt der Agenda der deutschen Politik. Allerdings nicht, indem ihre Protagonisten diese Politik auf eigene Weise nachvollziehen, sondern indem sie etwas dagegen unternehmen, Menschen retten und damit beweisen, dass ein gegenläufiges Verhalten selbst in der schwierigsten Situation noch möglich war. Je schlimmer die Lage für die Verfolgten subjektiv wurde, desto mehr Fluchthelfer finden wir in den Dossiers. Eine umfassende Darstellung ihrer Tätigkeit gibt es bis heute allerdings nicht; sie würde auf viele Schwierigkeiten stossen: Erfolgreiche Fluchthilfe musste stets unter strengen Geheim­haltungsmassnahmen stattfinden, selbst den Flüchtlingen gegenüber, die oft nicht einmal die Namen ihrer Retter erfuhren. In den überlieferten Akten kommen fast nur jene Fluchthelfer namentlich vor, die von Polizisten oder Soldaten erwischt worden sind, und Zeitzeugen oder Zeitzeuginnen, die weitergehende Auskunft geben könnten, sind praktisch ausgestorben.

Kleiner Grenzverkehr

Erste «Emigrantenschmuggler» tauchten an der Schweizer Grenze bald nach Adolf Hitlers Machtantritt auf. Es waren vor allem Militante aus der Arbeiter­bewegung: Kommunisten, Kommunistinnen, Gewerkschafter und Sozial­demokraten, die von der Gestapo verfolgte Genossinnen und Genossen bei sich unterbrachten und ihnen weiterhalfen. Am 23. Januar 1935 nahm die Polizei in Singen am Hohentwiel den jungen Gipser Xaver Harlander fest. Harlander arbeitete in Schaffhausen, er fuhr also jeden Tag über die Grenze. Wenn bei der Familie Harlander im Singener Arbeiterquartier ein Flüchtling eintraf, informierte Xaver Harlander am nächsten Tag die kommunistische Rote Hilfe in Schaff­hausen. Ein Schweizer Genosse, oder eine Genossin, löste dann beim Zoll einen Tagesschein – einen Passersatz ohne Fotografie, der im kleinen Grenzverkehr gebräuchlich war – samt Rückfahrkarte, begab sich nach Singen und händigte beides dem Flüchtling aus. Während der Schweizer Helfer, oder die Helferin, nun mit dem richtigen Reisepass zurückkehrte, konnte der Emigrant sich an der Grenze mit dem Tagesschein aus­weisen, welcher durch die in der Schweiz erworbene Rückfahrkarte an Glaubwürdigkeit gewann.

Harlander ging der Polizei zunächst nur wegen des Besitzes von kommunistischen Druckschriften ins Garn und wurde deswegen im Juni 1935 zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Am 26. August 1935 verhaftete die Gestapo auch den Schlosser Wilhelm Schwarz und den Hilfsarbeiter Karl Maier aus Singen. Es gelang ihr schliesslich, einen ganzen Fluchthilfering auszuheben. Einige Beteiligte wurden zu Gefängnisstrafen zwischen 15 Jahren Zuchthaus und 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Zu den Schweizerinnen und Schweizern, die in dieser Gruppe mitgeholfen hatten, gehörten die Schaffhauser Fabrikarbeiterin Marie Grimm, die im Februar 2003 mit 97 Jahren gestorben ist, und der Sattler Gottfried Wasem. Letzterer wurde am 1. April 1936 vom «Volksgerichtshof» in Berlin mit zwölf Jahren Gefängnis bestraft. Unter den bei Singen durchgeschleusten Flüchtlingen waren laut Xaver Harlander der kommunistische Reichstagsabgeordnete Hans Beimler und der Schriftsteller Hans Marchwitza.[v]

Am 8. Mai 1938 verhaftete die Gestapo in Konstanz den sozialdemokratischen Metallarbeiter Ernst Bärtschi aus dem schweizerischen Nachbarort Kreuzlingen sowie seine deutschen Komplizen Karl Durst, Andreas Fleig und Pauline Gutjahr. Die Gruppe hatte – wie jene in Singen – Flüchtlinge aus Deutschland in die Schweiz und umgekehrt Propagandamaterial von der Schweiz nach Deutschland gebracht. Ernst Bärtschi handelte im Auftrag von geflohenen deutschen Gewerkschafts­funktionären, die sich in Kreuzlingen, später in St. Gallen niedergelassen hatten: Es waren also Gewerkschafter und Sozialdemokraten – etwa Paul Nusch aus Offenbach –, die Bärtschi und seine Freunde ins Exil führten. Der «Volksgerichtshof» verurteilte sie deswegen im Herbst 1938 zu hohen Zuchthausstrafen. Wie Gottfried Wasem musste Ernst Bärtschi in der Gefangenschaft auf jede Unterstützung der schweizerischen Regierung verzichten und kam erst 1945 wieder frei, nach Jahren in Einzelhaft und im Konzentrationslager Dachau.[vi]

Als weitere Fluchtroute am Bodensee ist schliesslich jene von Otto Marquard zu erwähnen. Der Kunstmaler und Wirt einer vegetarischen Pension im deutschen Allensbach pflegte die mit einem Kennwort zu ihm geschickten Emigranten in einer Gondel über den See ans Schweizer Ufer zu rudern. Zu den von Marquard geretteten Leuten gehörten nachweisbar etwa der Theologe Kuno Fiedler und die Ehefrau des Arbeiterdichters Hans Dohrenbusch..[vii]

Die grosse Vertreibung

Manche der in Singen, Allensbach oder Konstanz – und auf ähnliche Weise bei Basel – bis 1938 in die Schweiz gebrachten Flüchtlinge mögen Juden gewesen sein. Auch unter den jungen Männern, die ab 1937 im St. Galler Rheintal, im Länderdreieck oberhalb des Bodensees, heimlich über die Grenze begleitet wurden, damit sie weiter nach Spanien reisen und dort in den Internationalen Brigaden kämpfen konnten, gab es zweifellos einige Juden. Doch diese frühen Menschenschmuggler-Netze waren nicht für die Opfer der rassistischen Verfolgung geknüpft, sondern für politisch aktive, linke Nazigegner.

Eigentliche «Judenschlepper» – wie sie bald bezeichnet wurden – finden sich in den Akten ab Frühjahr und Sommer 1938. Das erste mir bekannte Schweizer Gerichtsurteil gegen den Fluchthelfer eines Juden stammt vom 7. Juli 1938: Es betraf den Basler Mechaniker Adolf Studer, der mit fünf Tagen Gefängnis bedingt und einer Geldbusse von 20 Franken bestraft worden ist, weil er den staatenlosen Leo Silberg aus Wien mit einem Tagesschein, der auf den Namen eines Schweizers ausgestellt war, in Weil am Rhein abgeholt hatte. Adolf Studer benutzte also jene Methode, die schon die Gruppen um Xaver Harlander und Ernst Bärtschi praktiziert hatten. An der Grenze schöpften die Schweizer Beamten Verdacht und Silberg wurde verhaftet.

Am 23. September 1938 verurteilte das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt den Kaufmann Oskar Gablinger zu 50 Franken Busse, weil er die Wiener Jüdin Olga Halpern-Kohn am Grenzübergang «stillschweigend für seine Frau ausgegeben» hatte, «indem er dem schweizerischen Grenzpolizeibeamten nebst seinem eigenen Pass denjenigen seiner Ehefrau (…) vorwies». Während bei Studer der Verdacht notiert worden war, er betreibe die Fluchthilfe «gewohn­heitsmässig», also professionell, hielt das Gericht Oskar Gablinger zugute, dass er Frau Halpern, nachdem er «selbst Israelit» sei, aus «achtenswerten Beweggründen zur Flucht aus Deutschland verholfen» habe.[viii]

Auch der erste wegen Unterstützung von Juden zu Gefängnis verurteilte Fluchthelfer in der Ostschweiz war selber Jude: Am 28. Oktober 1938 verhängte das Bezirksgericht Unterrheintal in Rheineck, an der Grenze zum ehemaligen Österreich, eine Strafe von zweieinhalb Monaten gegen den 25-jährigen Handelsreisenden Hermann Hutmacher aus Zürich. Hutmacher hatte den Wiener Flüchtling Albert Schapira über die Grenze geholt, indem er – wiederum die bekannte Methode – diesem in Bregenz seinen eigenen Grenzpassierschein übergab und mit dem zusätzlich mitgeführten Reisepass in die Schweiz zurückkehrte. Hutmacher handelte nach Ansicht des Gerichts «aus lauter Mitleid» und auf Drängen der Verlobten von Schapira in Zürich. Er verlangte keine Belohnung, sondern löste dem Flüchtling in der Schweiz sogar noch eine Fahrkarte und gab ihm drei Franken Taschengeld.[ix]

Mit Bussen in der Höhe von 100 bis 120 Franken bestraften die lokalen Behörden im St. Galler Rheintal bereits im September 1938 einige junge einheimische Burschen, weil diese gegen Bezahlung österreichischen Flüchtlingen den Weg über einen alten Arm des Rheins auf Schweizer Territorium gezeigt hatten. Die Schmuggler Josef Bell und Felix Sigismondi aus Widnau zum Beispiel brachten am 21. August 1938, zwei Tage, nachdem die Grenze geschlossen worden war, fünf Flüchtlinge zu einem Preis von 5 Reichsmark pro Kopf in die Schweiz. Die Schlepper Eduard Hutter und Jakob Spirig aus Diepoldsau verlangten einen Monat später, am 16. September 1938, für die Rettung einer fünfköpfigen Familie insgesamt 35 Mark, die sie unter vier oder fünf Kollegen aufteilen mussten.

Im Sommer 1938 hatte die grosse Massenflucht aus Österreich angefangen, und die Schweizer Behörden waren darüber sehr beunruhigt. Viele Juden wurden in Wien verhaftet, öffentlich und auf Polizeiposten misshandelt, ins KZ gesteckt oder mit dem Ultimatum freigelassen, in kürzester Zeit das Land zu verlassen. Manche Familien schickten zuerst die am stärksten bedrohten, erwachsenen oder halbwüchsigen Söhne, danach die Töchter ins Ausland, für die Eltern, die zuletzt fliehen wollten, war es am Ende dann oft zu spät. An der Schweizer Grenze hatten Flüchtlinge wie Schlepper in jenen Wochen weniger die deutsche als die schweizerische Grenzwache zu fürchten. Die Deutschen wollten die Juden ja loshaben, und die Schweizer wollten sie nicht übernehmen. In eidgenössischen Amtsstuben sprach man von der Gefahr einer «Verjudung» des Landes. Die jüdischen Organisationen der Schweiz zwang man zur Übernahme sämtlicher Kosten für jüdische Flüchtlinge. Der Chef der Eidgenössischen Polizeiabteilung, Heinrich Rothmund, protestierte in Berlin «mit grossem Ernst» gegen das «Einschleusen» von Juden «mit Hilfe der Wiener Polizei». Man könne die Juden in der Schweiz «ebensowenig brauchen» wie in Deutschland, sagte er.

Niemand weiss, wieviele Fluchthelfer es zu dieser Zeit gab. Aktive Schlepper waren jetzt oft – wie bei der Gruppe um Jakob Spirig und Eduard Hutter – junge Arbeitslose oder Bauern, die einen Verdienst suchten und dazu vielleicht ein bisschen von der Abenteuerlust getrieben wurden. Einige hatten früher als Warenschmuggler gearbeitet oder auch gegen Entschädigung Spanienkämpfer über die Grenze gebracht. Die wenigsten Flüchtlinge konnten ihren Helfern viel bezahlen, entweder waren sie schon in Österreich völlig ausgeraubt worden oder sie stammten aus dem Wiener Proletariat und hatten kaum etwas besessen.

Die genauen Flüchtlingszahlen des Jahres 1938 an der Schweizer Ostgrenze sind unbekannt. Einer wie Jakob Spirig allein hat vermutlich mehr als hundert Menschen in die Schweiz gebracht. In St. Gallen wurde die Statistik jedoch, wie sich bald herausstellte, regelmässig gefälscht.

Beamte als Fluchthelfer

Am 20. Dezember 1938 verhaftete die Gestapo in der Nähe von Bregenz den Schweizer Landjäger Karl Zweifel aus Buchs, St. Gallen, sowie den Taxiunternehmer Alfred Schachtler aus dem Schweizer Grenzort St. Margrethen. Sie führten in Schachtlers Auto zwei jüdische Frauen mit und wollten diese in Sicherheit bringen. Alle vier wurden ins Gefangenenhaus Bregenz eingesperrt. Nach einigen Tagen liessen die Deutschen die Schweizer gegen eine Kaution von 500 Franken frei. Zurück auf Schweizer Boden kam Karl Zweifel sofort wieder in Haft. Ebenfalls festgenommen wurde sein Polizeikollege Christian Dutler, und die beiden gestanden, dass sie in den letzten Monaten regelmässig Flüchtlinge in die Schweiz eingelassen hatten – im Auftrag der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und auch im Auftrag oder mit Kenntnis ihres höchsten Chefs, Regierungsrat Valentin Keel, des sozialdemokratischen Polizeiministers im Kanton St. Gallen.

Als Kommandant der Kantonspolizei St. Gallen amtierte seit 1925 der bürgerliche Landjägerhauptmann Paul Grüninger. Er muss von der illegalen Tätigkeit der Polizisten und seines politischen Vorgesetzten Keel ebenfalls gewusst haben: Doch genau untersucht wurde das nie, denn ab Januar 1939 stand Paul Grüninger selber unter einem noch viel schwereren Verdacht, und im April 1939 wurde er als Polizei­hauptmann fristlos entlassen.

Grüninger hatte in den Monaten seit der Grenzsperre mehrere hundert, vielleicht sogar einige tausend jüdische Flüchtlinge nicht zurückweisen lassen. Er hatte – im Einvernehmen mit Valentin Keel oder aus eigenem Entschluss – die Flüchtlinge ohne Erlaubnis der Bundesbehörden im Kanton St. Gallen aufgenommen. Er hatte von der Israelitischen Flüchtlingshilfe die Einreisedaten fälschen und die Flüchtlingszahlen frisieren lassen, um seine Hilfe zu tarnen und die Flüchtlinge zu schützen. Er hatte sogar Flüchtlinge im Dienstwagen über die Grenze geholt und inhaftierte Juden mit der Zusicherung einer Einreiseerlaubnis aus Dachau befreit.

Im Oktober 1940 verteilte das Bezirksgericht St. Gallen den ehemaligen Polizeihauptmann zu einer Busse, wobei ihm die Richter nach strenger Untersuchung attestierten, dass er aus Menschen­freundlichkeit gehandelt habe und «keinerlei persönlichen Vorteil für sich beabsichtigte noch sonst erhielt». Sein Vorgesetzter Valentin Keel hatte Grüninger bei Beginn der Untersuchung fallen lassen und jede Mitverantwortung für dessen Taten abgelehnt. Wegen Gerüchten, die sich um Grüningers Verhaftung rankten, wegen Verdächtigungen und übler Nachrede, nicht zuletzt aus dem Polizeikorps, war er jetzt ein ruinierter Mann. Er musste sich für den Rest seines Lebens mit Gelegenheitsjobs durchschlagen und lebte in Armut. Bis zum Tod 1972 hat er nie mehr eine feste Anstellung gefunden.[x]

Auch die beiden Polizisten Christian Dutler und Karl Zweifel wurden aus dem Polizeidienst entlassen. Ein Verfahren gegen sie verlief allerdings im Sande, die Behörden haben es 1941 eingestellt. Ohne Prozess endete auch ein Verfahren gegen die religiöse jüdische Industriellengattin Recha Sternbuch aus St. Gallen, die 1938 an der Vorarlberger Grenze offenbar einen eigenen Schlepperring unterhalten hatte, für den zum Beispiel der Österreicher Edmund Fleisch aus Altach und der Schweizer Willi Hutter aus Diepoldsau arbeiteten, und über den Paul Grüninger informiert war.

Ein glimpflicheres Schicksal als der St. Galler Polizeikommandant und seine beiden Untergebenen erlebte der Kanzler der Schweizeri­schen Konsulatsagentur in Bregenz, Ernest Prodolliet. Dieser wurde im November 1938 beim Versuch angehalten, einen jüdischen Flüchtling eigenhändig über die Grenze zu schmuggeln. Er stand dabei in Verbindung mit Grüninger sowie mit der Israelitischen Kultusgemeinde St. Gallen. Prodolliet, der in zahlreichen anderen Fällen grosszügig Visa an verfolgte Juden ausstellte, ihnen weiterhalf und sogar Vermögenswerte in die Schweiz bringen liess, wurde von seinem Bregenzer Vorgesetzten eine «allzuschroffe Verneinung» des national­sozialistischen Regimes vorgeworfen. Das Schweizer Aussenministerium belehrte ihn im Februar 1939: «Unsere Agentur ist nicht dazu da, dass es den Juden gut geht.» Im Rahmen eines Disziplinarverfahrens rief man Ernest Prodolliet nach Bern zurück und versetzte ihn später nach Amsterdam. Dort stellte er 1942 wieder Dokumente für gehetzte Juden aus.[xi]

Internationalisierte Verfolgung

In Kreuzlingen verhaftete die Schweizer Polizei am 30. Dezember 1938 den Konstanzer Taxifahrer Victor Rebholz. Er hatte einer fünfköpfigen jüdischen Familie ein Loch im Zaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen gezeigt und die Familie nach ihrem Grenzübertritt im Auto nach Zürich gefahren. Rebholz erhielt in der Schweiz verschiedene Bussen von insgesamt 1150 Franken. Er war längere Zeit inhaftiert. Dann überstellten ihn die Schweizer nach Deutschland, und Rebholz kam ins Gefängnis, nachher ins KZ, das er überlebte. [xii]

Seit dem Sommer 1938 waren in Konstanz – wie in der nahen jüdischen Gemeinde Gailingen – auch ortsansässige Jüdinnen und Juden für die Flüchtlinge aktiv. Die Konstanzer Familie Ottenheimer, die ein Konfektionsgeschäft betrieb, wies Flüchtlingen, die sich bei ihr meldeten, nicht nur den Weg über einen Grenzbach, sondern die Ottenheimers sandten manchen Flüchtlingen später auch ihr Reisegepäck nach. Im November 1938 wurde Ludwig Ottenheimer, der Familienvater, ins KZ Dachau eingeliefert. Nach seiner Entlassung gelang es der Familie, zu emigrieren. Ein ehemaliger Flüchtling hat berichtet, dass es noch Anfang Februar eine Schlepperfamilie in Konstanz gab, die bedrohte Juden, zwar gegen moderate Bezahlung, zu einem Loch im Grenzzaun führte.[xiii]

Von Anfang 1939 bis zu den Ereignissen im Sommer 1942 ist in den Schweizer Akten und in der Literatur sonst nur noch wenig von Fluchthelfern die Rede. Das mag zwar auch an der ungenügenden Forschung liegen, sicher ist aber, dass – nach Durchsetzung der Einreisesperre für Juden und spätestens seit Kriegsausbruch – einfach weniger Flüchtlinge kamen. Im November 1941 konnte der Chef der Eidgenössischen Polizeiabteilung seinem Vorgesetzten, Bundesrat Eduard von Steiger, über die Grenzschliessung von 1938 berichten: «Die Sperrmassnahme musste rigoros durchgeführt werden und stiess auf den Unwillen der Grenzbevölkerung. Einige Grenzkantone, namentlich St. Gallen und Basel, zum Teil auch Schaffhausen, konnten nur mit grösster Mühe zur Vernunft gebracht werden und liessen noch zahlreiche Flüchtlinge ein. Nachdem auch sie Order pariert hatten, kam die Nacht vom 9. November 1938 mit besonders hässlicher Judenverfolgung. Das hatte zur Folge, dass Basel und St. Gallen trotz unserer ständigen Proteste noch einige hundert illegal eingereiste Flüchtlinge aufnahmen. Dann gab es endlich Ruhe.»[xiv]

Die zweite grosse Massenflucht, im Sommer und Herbst 1942, fand nicht mehr am Hochrhein und am Bodensee statt. Jetzt kamen die Menschen über den Genfersee oder die «grüne Grenze» bei Genf, über die Walliser Alpen, den Jura. Die Verfolgung hatte sich internationalisiert. Neben französischen, belgischen und holländischen Juden gelangten auch viele Deutsche oder Österreicher, die zuerst in Frankreich Zuflucht gesucht hatten, von Westen oder von Süden her an die Schweizer Grenze. Fast alle waren in dem unbekannten, oft schwierigen Gelände auf Schlepper oder Passeure angewiesen. Zu den Flüchtlingen, die in diesen Wochen in die Schweiz einreisten, gehörten etwa die Schriftsteller Felix Stössinger, Manès Sperber, die Mutter des Journalisten und späteren Zukunftsforschers Robert Jungk und der berühmte Sänger Joseph Schmidt («Ein Lied geht um die Welt»), der bald darauf in einem Schweizer Flüchtlingslager starb. Der heute in Wien lebende Schriftsteller Fred Wander floh als Fritz Rosenblatt über die Grenze. Er wurde jedoch am 1. September 1942 von schweizeri­schen Beamten der französischen Polizei übergeben und durch die Lager Rivesaltes und Drancy nach Auschwitz geschickt.[xv]

Am 25. September 1942, einen Monat nach der Grenzsperre vom August 1942, erliess der Bundesrat ein neues Gesetz, das die Bestrafung von Fluchthelfern vereinfachte: «Wer unter Umgehung der schweizerischen Grenzkontrolle das Land betritt oder verlässt» hiess es darin, «oder im In- oder Ausland Anstalten hierzu trifft, wer im In- oder Ausland die unerlaubte Ein- oder Ausreise erleichtert oder vorbereiten hilft, wird mit Gefängnis bestraft; in leichten Fällen erfolgt disziplinarische Bestrafung.» Für die gerichtliche Verfolgung der Passeure war inzwischen die Militärjustiz zuständig. Mehrere Dutzend Urteile – wie jenes gegen Aimée Stitelmann – blieben erhalten. Zum Teil sind sie heute wissenschaftlich bearbeitet, systematisch ausgewertet wurden sie aber noch nicht.[xvi]

Viele bezahlte und nicht bezahlte Passeure an der Westschweizer Grenze arbeiteten ab 1942 für jüdische oder für christliche Organisationen– auch für Schweizer Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes –, die versuchten, die Kinder von bereits deportierten Jüdinnen und Juden aus französischen Heimen «verschwinden zu lassen», das heisst, sie in die Schweiz zu retten. Jüdische Organisationen unterhielten mehrere Fluchtlinien – «filières» –, eine reichte von Belgien bis ins schweizerische Porrentruy im Jura und von dort weiter ins Landesinnere. Sie wurde erst aufgedeckt, als Schweizer Militärpolizisten sich 1943 als Flüchtlinge verkleideten und prompt bei einer Wirtin in der Nähe von Porrentruy Aufnahme und Hilfe fanden. Vertreter der Bekennenden Kirche versuchten immer wieder, beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement besonders bedrohte Persönlichkeiten auf eine Liste der «Nonrefoulable», der «Nichtabschiebbaren», zu setzen. Wenn dies gelang, musste man die Leute aber zuerst an den deutschen und französischen Grenzposten vorbeibringen. Die protestantische Fluchthilfeorganisation CIMADE unterhielt zu diesem Zweck sogar festangestellte Schlepper die einen regelmässigen Lohn bezogen unter der Bedingung, dass sie von den Flüchtlingen kein weiteres Geld verlangten.[xvii]

Andere Passeure arbeiteten auf eigenen Antrieb und eigene Rechung, in den Akten ist die Motivation nicht immer klar erkennbar. So oder so riskierten sie viel. Wenn etwa Fischer mit ihren heimlichen Passagieren den Weg über den Genfersee suchten – im Herbst 1942 geschah das jede Nacht – und man sie erwischte, sahen das Schweizer Gesetz neben Gefängnis und hohen Bussen vor, dass die Boote beschlagnahmt werden konnten. Damit war ihre Existenzgrundlage der Fischer zerstört. Am 12. September 1942 ruderten Léon und Noël Moille aus Thonon-les-Bains vier Jüdinnen und Juden in einem Boot über den See. Im waadtländischen Rolle wurden sie bei der Landung von Grenzwächtern überrascht, einer eröffnete das Feuer auf sie, und der junge Léon Moille starb, während sein Onkel Noël verhaftet und später zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde.

Umgekehrt berichtete am 7. Oktober 1942 ein Schweizer Grenzwächter nach Bern, er habe erfahren, dass der Schlepper Raymond Montmége, «weil er Juden den Grenzübertritt erleichtert hatte» von den Deutschen nach Besançon gebracht und dort hingerichtet worden sei.[xviii] Im April 1945 starb der Schweizer Fluchthelfer Pierre Vaucher im Konzentrationslager Nordhausen. Bevor ihn die Deutschen eingesperrt hatten war er am 29. Oktober 1942 bereits in der Schweiz wegen Passeurdiensten zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden.[xix]

Letzte Chancen

Trotz der Verlagerung des Fluchtgeschehens in die Westschweiz und – nach der deutschen Besetzung Italiens 1943 – in das Tessin, sind auch von der Ost- und Nordgrenze einige Fluchthilfefälle aus der zweiten Kriegshälfte bekannt: Am 1. Juni 1942 verhaftete die Gestapo in Wiechs an der deutschen Grenze zu Schaffhausen den dortigen katholischen Pfarrer Eugen Weiler. Dieser hatte am 21. Mai die Jüdin Käthe Lasker an die Grenze gebracht. Lasker erzählte nach gelungener Flucht den Schweizer Grenzwächtern von ihrem Helfer. Einer der Grenzwächter berichtete einem deutschen Kollegen darüber. – Neben Weiler verhaftete die Gestapo in der Folge auch den ehemaligen Stadtpfarrer von Singen, August Ruf, der Lasker zu seinem Amtsbruder verwiesen hatte.

Von September 1942 bis Februar 1943 brachte Wilhelm Martin, der Wirt der Bahnhofgaststätte von Altenburg bei Neuhausen, auf Vermittlung des Berliner Kunstmalers und Galeristen Franz Heckendorf insgesamt wohl 20 Juden und Jüdinnen an die Grenze. Martin, welcher der NSDAP angehörte und seine Dienste möglicherweise aus rein kommerziellen Gründen zur Verfügung stellte, der Berliner Heckendorf und ein weiterer Beteiligter wurden schliesslich festgenommen und – wie die beiden Pfarrherren von Singen und Wiechs – zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Eine weitere Fluchtroute führte über die Halbinsel Höri am unteren Bodensee. Dort gelang es dem wegen seiner jüdischen Vorfahren als Musiker entlassenen Heinrich Wollheim in den Jahren 1942 und 1943 mehrmals, Jüdinnen und Juden über die Grenze zu bringen. Er arbeitete mit dem 1939 aus dem deutschen Wangen mit dem Kursschiff ins Schweizerische Stein am Rhein emigrierten Arzt Nathan Wolf zusammen, die notwendigen Kurierdienste besorgten Fabrikarbeiter, die jeden Tag von der Höri über Stein am Rhein nach Singen ins Aluminiumwalzwerk fuhren.

Mit Nathan Wolf ebenfalls verbunden war die Route über Josef Höfler in Gottmadingen: Höfler brachte mit Kollegen um die 28 Flüchtlinge in die Schweiz, die ihm aus Berlin vermittelt worden waren: von einem Fluchthilfering, den dort die katholische Witwe Luise Meier bis zu ihrer und Höflers Verhaftung im Mai 1944 betrieb, und der auch Kontakte zu Helfern in Vorarlberg unterhielt. Auf dem Weg über Gottmadingen kamen beispielsweise der im Frühjahr 2004 in New York verstorbene Historiker Herbert A. Strauss und der heute in Basel lebende Religionswissenschaftler Ernst Ludwig Ehrlich in die Schweiz. 1944 kostete eine Flucht auf der Route von Josef Höfler 6000 Mark, der Preis war jedoch verhandelbar, wie sich im im Fall von Jizchak Schwersenz zeigte, einem Zionisten, der lange im Berliner Untergrund gelebt hatte und sich im Mai 1944 mit Höflers Hilfe doch noch in die Schweiz retten konnte.[xx]

All diese Fluchthelfer aus der Gegend von Singen hatten das Glück die Haft zu überleben: Der «Halbjude» Heinrich Wollheim dank der Protektion durch den Dirigenten Wilhelm Furtwängler, die bis ins KZ Dachau hineinreichte. Pfarrer und Monsignore August Ruf starb 1944 kurz nach seiner krankheitsbedingten Entlassung.[xxi]

Tragisch endete eine Fluchthilfeaktion in Diepoldsau, jener Gegend im Rheintal, in der 1938 die meisten Flüchtlinge über die Grenze gekommen waren: Im Mai 1942 versuchte eine Gruppe von Schleppern, die schon 1938 aktiv gewesen waren, fünf ältere jüdische Damen über die Grenze zu holen. Unter ihnen befand sich die Schriftstellerin Gertrud Kantorowicz. Die Flucht misslang; nur eine der Frauen schaffte es – neben den beteiligten Schleppern – in die Schweiz. Die Fluchthelfer Jakob Spirig, Hermann Kühnis und einige ihrer Komplizen wurden zusammen mit dem Auftraggeber, dem Flüchtling Heinz Hammerschlag, von einem Schweizer Militärgericht zu mehrmonatigen Gefängnis­strafen verurteilt. Die vier an der Grenze eingefangenen Frauen, auch Gertrud Kantorowicz, haben nicht überlebt.[xxii]

Rehabilitationen

Kehren wir zum Schluss zu Aimée Stitelmann zurück, die nicht für Geld, sondern allein aus politischer und moralischer Überzeugung handelte. Als im Zusammenhang mit der Diskussion um die Schweizer Vergangenheit – und als Folge der postumen Rehabilitierung von Polizeihauptmann Paul Grüninger durch das St. Galler Bezirksgericht 1995 – das Schweizer Parlament ein eigenes Rehabilitationsgesetz für Fluchthelfer aus der Nazizeit erliess, fand Frau Stitelmann die Idee, sich sechzig Jahre nach ihren Taten rehabilitieren zu lassen, zunächst einmal absurd und lächerlich. Nach der Flüchtlingshilfe für Juden hatte sie sich in ihrem Leben im Kampf gegen den Vietnamkrieg engagiert, gegen die Franco-Diktatur in Spanien und in jüngerer Zeit für Asylbewerber, papierlose Immigrantinnen und Immigranten. Ein umfangreiches Dossier bei der Schweizerischen Bundespolizei zeugte davon. Stitel­mann liess sich überreden, trotzdem einen Rehabilitationsantrag zu stellen und erklärte der Öffentlichkeit, sie sei keine Heldin, es gehe ihr nicht um ihre eigene Vergangenheit sondern um die Zukunft.

Um diese ging es bei dem neuen Rehabilitationsgesetz tatsächlich. Es sollte zeigen, dass nicht die Fluchthelfer ungesetzlich waren, sondern dass Gesetze, die fliehende Menschen in den Tod schicken, jeder Vorstellung von Recht widersprechen. Seither sind mehr als vierzig verurteilte Passeure aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 rehabilitiert worden. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie Geld nahmen oder nicht und aus welchen Motiven sie handelten. Nur dass sie die Flüchtlinge wirklich über die Grenze brachten, sie nicht im Stich liessen, darauf kam es an.[xxiii]

Kein Fluchthelfer ausser Aimée Stitelmann hat die eigene Rehabilitierung noch erlebt.


[i] Zu Aimée Stitelmann siehe etwa Elaine Sciolion, «60 years later, Jew’s rescuer seeks Swiss pardon», in «The New York Times», 15. Januar 2004. Philippe Broussard, «La Suisse et ses justes», in «Le Monde» (Paris), 13. Februar 2004. Jean Batou, «Une vie à contre-courant», Nachruf in «Le Courrier» (Genève), 6. Januar 2005. Ferner: Heini Bornstein, «Insel Schweiz. Hilfs- und Rettungsaktionen sozialistisch-zionistischer Jugendorganisationn 1939-1944», Zürich 2000. – Das Urteil des Territorialgerichts I der Schweizer Armee gegen Aimée Stitelmann datiert vom 11. Juli 1945 und liegt dem Verfasser vor.

[ii] Zu Mila Racine: Asher Cohen, «Persécutions et sauvetages. Juifs et Français sous l’Occupation et sous Vichy». Les Éditions du Cerf, Paris 1933. Raphael Delpard, «L’armée juive clandestine en France 1940-1945», Paris 2002.

[iii] Zu Marianne Cohn: Asher Cohen, «Persécutions et sauvetages». Israel Gutman [Hrsg.]: «Dictionnaire des Justes de France», édition établie par Lucien Lazare, Yad Vashem, Jerusalem und Paris 2003, Seite 204.

[iv] Alfred A. Häsler, «Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933-1945», Verlag Ex Libris, Zürich 1967 (und spätere Auflagen). Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg: «Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus», Zürich 2001.

[v] Käthe Weick, «Widerstand und Verfolgung in Singen und Umgebung. Berichte, Lebensbilder und Dokumente», Stuttgart 1982. Hermann Wichers, «Im Kampf gegen Hitler. Deutsche Sozialisten im Schweizer Exil 1933-1940», Zürich 1994. Franco Battel, «’Wo es hell ist, dort ist die Schweiz‘. Flüchtlinge und Fluchthilfe an der Schaffhauser Grenze zur Zeit des Nationalsozialismus», Zürich 2000.

[vi] Zu Bärtschi: Mathias Knauer, Jürg Frischknecht, «Die unterbrochene Spur. Antifaschistische Emigration in der Schweiz von 1933 bis 1945», Zürich 1983. Ferner Gespräche mit Ernst Bärtschi.

[vii] Zu Marquard: Manfred Bosch, «Bohème am Bodensee. Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950», Lengwil 1997. Ferner: Hannes Dohrenbusch, «Bericht eines ‚Flüchtlingskindes’», in «Neue Zürcher Zeitung», 10. September 1998.

[viii] Zu Studer und Gablinger: Schweizerisches Bundesarchiv, E 4260 (C) 1974/34, Bd. 172.

[ix] Die Urteile des Bezirksgerichts Unterrheintal liegen im Staatsarchiv St. Gallen. Die Unter­suchungen gegen die Fluchthelfer, Bell, Sigismondi, Hutter und Spirig sind im Bestand A 116 im Staatsarchiv St. Gallen dokumentiert.

[x] Stefan Keller, «Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe», Zürich 1998 (vierte, um die Rehabilitationsgeschichte ergänzte Auflage).

[xi] Zur Situation an der Grenze, zu Spirig, Dutler, Zweifel, Keel, Sternbuch, Fleisch, Hutter, Prodolliet: Stefan Keller, «Grüningers Fall».

[xii] Zu Rebholz und zur Lage in Konstanz: Arnulf Moser, «Fluchthelfer und Flüchtlinge an der Schweizer Grenze, 1933-1945», in Andreas Griessinger [Hrsg.], «Grenzgänger am Bodensee. Georg Elser. Verfolgte – Flüchtlinge – Opportunisten», Konstanz 2000. Im Schweizerichen Bundesarchiv das Dossier: E 6350 (B) 7, Bd. 522.

[xiii] Zu Ottenheimer: Battel, «’Wo es hell ist, dort ist die Schweiz’», S. 183 ff. Zur Flucht im Februar 1939: Keller, «Grüningers Fall», S. 151 f.

[xiv] Schweizerisches Bundesarchiv E 4800 (A) 1974/34, Bd. 135.

[xv] Fred Wander, «Hotel Baalbek», Roman, Berlin und Weimar 1991. Irene Loebell, «Eine Reise nach Genf», Dokumentarfilm, Schweiz 1999. – Zur Situation an der Grenze und zu den Auslie­ferungen an die Nazis: Stefan Keller, «Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte», Zürich 2003.

[xvi] Schweizerisches Bundesarchiv E 5335/3, Bd. 2 und 3 (Urteilssammlung Territorialgericht I).

[xvii] Unabhängie Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg, «Die Schweiz und die Flüchtlinge», S. 154 ff. und S. 160 ff. Regula Ludi, «Fluchthilfe und Vergangenheitspolitik», in Otmar Hersche (Hrsg.), «Geschichtsbilder, Widerstand, Vergangenheitspolitik», Zürich 2002. Antonia Schmidlin, «Eine andere Schweiz. Helferinnen, Kriegskinder und humanitäre Politik 1933–1942», Zürich 1999. Zu CIMADE auch: Staatsachiv Genf, Justice et Police Ef/2 No. 7829.

[xviii] Zum Fall Moille: Schweizerisches Bundesarchiv E 5335/3, Bd. 2 und ein Bericht im «Volksrecht» (Zürich), 14. September 1942. Zu Monmége: Schweizerisches Bundesarchiv E 4260 (C) 1974/35, Bd. 135.

[xix] Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg, «Die Schweiz und die Flüchtlinge», S. 153.

[xx] Die Fälle Weiler, Ruf, Martin, Heckendorf, Wollheim, Wolf, Höfler werden bei Franco Battel dokumentiert, «Wo es hell ist, dort ist die Schweiz», S. 183 ff. Ferner: Kurt Schilde, «Grenzüberschreitende Flucht und Fluchthilfe (1941-1945). Ereignisse, Interessen und Motive», in Beate Kosmala, Claudia Schoppmann (Hrsg.), «Überleben im Untergrund. Hilfe für Juden in Deutschland 1941-1945», Berlin 2002. Claudia Schoppmann, «Fluchtziel Schweiz. Das Hilfsnetz um Luise Meier und Josef Höfler», in Wolfgang Benz (Hrsg), «Überleben im Dritten Reich. Juden und ihre Helfer», München 2003. Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St.Gallen

zur Zeit des Nationalsozialismus», Zürich 2005.

[xxi] Zu Wollheim: Beate Kosmala, Revital Ludewig-Kedmi, «Verbotene Hilfe. Deutsche Retterinnen und Retter während des Holocaust», Zürich und Donauwörth 2003.

[xxii] Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg, «Die Schweiz und die Flüchtlinge», S. 151 ff. Schweizerisches Bundesarchiv E 5330 (-) 1975/95, 42 2346. Ferner: Gespräche mit Jakob Spirig.

[xxiii] Die Rehabilitatkonsakten sind auf der Website www.parlament.ch/homepage/ko-weitere-kommissionen/ko-rehab/ko-rehak-entscheide.htm einsehbar.