Emigrantenschmuggler an der Schweizer Grenze

Stefan Keller

Der Text erschien erstmals in: Wolfram Wette [Hrsg.], «Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkriegs», Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2005)

Marie Grimm, Fluchthelferin, 1999

Am 20. Dezember 2004 starb in Genf die pensionierte Lehrerin Aimée Stitelmann-Stauffer, eine freundliche und bescheidene, fast achtzigjährige Frau. Wenige Monate vor ihrem Tod war Aimée Stitelmann für kurze Zeit berühmt geworden: Die «New York Times», «Le Monde», die «Süddeutsche Zeitung» und fast alle schweizerischen Blätter veröffentlichten Artikel über sie, denn Stitelmann gehörte zu jenen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg jüdische Flüchtlinge über die Grenze gerettet hatten und dafür von den Schweizer Behörden bestraft worden waren. Aimée Stitelmann-Stauffer war eine der letzten noch lebenden Fluchthelferinnen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Ausserdem war sie die erste, auf die ein neues, seit 1. Januar 2004 geltendes Gesetz angewandt worden ist: Im März 2004 beschloss eine Kommission der Eidgenössischen Räte – des Schweizer Parlamentes – Aimée Stitelmann formell zu rehabilitieren. Eine Strafe von achtzehn Tagen Arrest, die sie 1945 wegen illegalem Überschreiten der Grenze und wegen «Ungehorsam» abgesessen hatte, gilt seither als aufgehoben. Eine materielle Wiedergutmachung erhielt Frau Stitelmann jedoch nie.

Jüdischer Widerstand

Aimée Stitelmann war siebzehnjährig, als sie Ende 1942 die jüdischen Kinder Hella und Uriel Luft aus Berlin im französischen Annemasse abholte und über die Grenze ins nahe Genf begleitete. Die Kinder wurden von den Schweizer Behörden nicht zurückgeschickt; Jahre später wanderten sie nach Amerika aus, wo sie heute noch leben.

Über Paul Grüninger

Stefan Keller

Alice und Paul Grüninger-Federer (Familienbesitz, ohne Jahr)

Referat vor dem Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen, 22. November 2017

Meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung

Wenn man von Paul Grüninger erzählt, der Flüchtlinge gerettet hat, dann muss man immer auch über die Flüchtlinge sprechen, die von ihm gerettet wurden. Ich hatte das grosse Privileg, noch mehrere Dutzend jüdische Flüchtlinge persönlich zu kennen, die dank Paul Grüninger und anderen Helfern oder Helferinnen hier im Kanton St. Gallen aufgenommen wurden und deshalb am Leben bleiben durften. Sie hiessen zum Beispiel Karl und Susi Haber, Benno Mehl und Sally Seifert, Erich Billig, Harry Weinreb, Rosa Schkolnik, Lilly Badner oder Klara Birnbaum, Judith Kohn, Lotte Bloch und so weiter – und sie wohnten, als ich sie kennenlernte, in aller Welt: in Europa, in Amerika, in Israel. Sie waren Zeitzeugen für meine Recherchen – sie wurden Zeugen im Prozess zur Rehabilitierung von Paul Grüninger. Mittlerweile sind fast alle diese Überlebenden in hohem Alter gestorben. Die meisten haben Kinder und Enkel hinterlassen.

Paul Grüninger Platz in St. Gallen

Am 15. Juni 1996, dem Internationalen Flüchtlingstag, weiht die Stadt St. Gallen einen Grüningerplatz ein. Bereits seit 1994 gibt es in einem Aussenquartier der Stadt einen Grüningerweg.

Text der Tafel

«Paul Grüninger, 1891-1972, rettete in den Jahren 1938/39 als kantonaler Polizeikommandant hunderte jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Unter Missachtung von Weisungen des Bundes ermöglichte er ihnen den Grenzübertritt im St. Galler Rheintal und wurde deshalb 1939 fristlos entlassen. 1940 wurde er gerichtlich verurteilt und 1995 durch einen Freispruch des Bezirksgerichts St. Gallen rehabilitiert.»

Die Platzbenennung in Anwesenheit des Stadtpräsidenten und des Landammanns wird zum Volksfest, die Otmarmusik St. Gallen führt den von einem Flüchtling 1939 komponierten Paul-Grüninger-Marsch auf.

Paul-Grüninger-Schule in Wien, Paul Grüninger Platz in Kiriat Ono und Rishon Lezion, Paul-Grüninger-Weg in Zürich, Paul-Grüninger-Haus in Weingarten, Paul-Grüninger-Strasse in Hohenems und Jerusalem …

Am 17. April 1997 benennt die Stadt Wien eine neuerbaute Schule an der Hanreitergasse 2 in Floridsdorf nach Paul Grüninger. Die Initiative ist massgeblich von Sophie „Susi“ Haber (1922-2012) ausgegangen, die als junge Flüchtlingsfrau von Grüninger gerettet wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Wien zurückkehrte.

Am 29. Mai 1997 wird in Kiriat Ono bei Tel Aviv ein Paul-Grüninger-Platz eingeweiht.

Bereits 1996 hat der Zürcher Stadtrat beschlossen, einen Weg in Zürich Nord nach Paul Grüninger zu benennen, die Eröffnung erfolgt im August 2003.

2003 wird eine Paul-Grüninger-Strasse in Hohenems, Vorarlberg, eingeweiht.

Im April 2004 benennt die Stadt Jerusalem eine Strasse nach Paul Grüninger.

Im Juli 2015 wird in Weingarten, Württemberg, ein Haus des Studierendenwerks nach Paul Grüninger benannt.

Im Oktober 2017 tauft die israelische Stadt Rishon Lezion eine Strasse nach Paul Grüninger.