Präsentation
Valzeina liegt südöstlich von Landquart, in einem Seitental des vorderen Prättigaus.
Hier leben rund 140 Menschen. Die Häuser sind in einem weiten Umkreis verstreut. Ein Mini-Postauto fährt in etwa 20 Minuten auf einer schmalen Bergstrasse zum Schulhaus Valzeina. Da ist Endstation. Wer weiter will, zum Beispiel zum Ausreisezentrum Flüeli, muss dies zu Fuss erledigen.
Das Haus des Ausreisezentrum Flüeli sieht behäbig aus. Es handelt sich um ein ehemaliges Kurhaus einer christlichen Organisation. Als anfangs Dezember 2006 über die Medien bekannt wurde, dass hier ein Asylzentrum entstehen sollte, gab es in Valzeina heftigen Protest. Ein solches Zentrum werde die Einheimischen empfindlich stören – 140 Dorfbewohner gegen geschätzte 50 bis 60 Asylsuchende, respektive abgewiesene Asylbewerber. Zudem sei das Flüeli für Fremde denkbar ungeeignet: Ein abgelegenes Haus, keine Einkaufsmöglichkeiten weit und breit, im Winter gelegentlich sogar abgeschnitten von der Umwelt. Beim Protest spielten auch Angst und Fremdenfeindlichkeit eine Rolle. Eine Aussprache mit den Behörden brachte keinen Erfolg. Die ersten Bewohner wurden am 13. Dezember 2007 ins Flüeli transportiert.
Weniger behäbig wirkt das Innere des Flüeli-Hauses. Die fremden Menschen, die in unserem Land gelandet sind, sollen nicht die schöne Prättigauer Alpenwelt geniessen, sie sollen möglichst rasch verschwinden. Nur wenige Zimmer werden für sie frei gegeben und diese wenigen werden mit Betten vollgestopft.
Zum Beispiel eine kurdische Frau mit ihren vier kleinen Kindern. Während Monaten mussten sie in einem Zimmer – 4,5 auf 5 Meter leben, abgeschieden von der Umwelt, die Kinder ohne Gspänli, praktisch eingesperrt. Im Sommer 2010 wurde die Kurdenfamilie überfallartig verhaftet – Vater, Mutter, vier Kinder – und nach Syrien ausgeschafft. Die brutale Ausschaffung erregte öffentlichen Protest. Ein Untersuchungsbericht zum Vorgehen der Polizei wurde versprochen – aber bis heute meines Wissens nicht veröffentlicht.
Die Situation im Flüeli mobilisierte einen Teil der Bevölkerung von Valzeina. Am 15. Dezember 2007 wurde im Schulhaus Valzeina der gemeinnützige Verein „Miteinander Valzeina“ gegründet. Initiantin und treibende Kraft war und ist Daniela Stirnimann-Gemsch zusammen mit ihrem Mann Guido. Rund 40 Menschen der näheren und weiteren Umgebung wurden Mitglieder des Vereins – etwa 20 arbeiten engagiert mit.
Daniela Stirnimann ist gelernte Kindergärtnerin. Das Ehepaar Stirnimann bewirtschaftet einen Bio-Bergbauernhof. Zur Familie gehören ein Sohn und eine Tochter. Daniela Stirnimann ist heute die Vertrauensperson für Flüeli-Bewohner.
Die Flüeli-Bewohner sind abgewiesene Asylbewerber, die von der Nothilfe leben. Nothilfe bedeutet: Pro Tag und Pro Person stehen 4 Franken und 50 Rappen zur Verfügung. Dieses Geld wird aber nicht ausbezahlt. Damit werden Nahrungsmittel gekauft, die wöchentlich zwei Mal von Landquart ins Flüeli befördert werden. Die Möglichkeiten, den abgelegenen Ort zu verlassen, sind sehr beschränkt. Bargeld ist keines vorhanden. Tätigkeiten in der Umgebung – z. B. bei einem Bauern – sind verboten. Jeder Bewohner muss zweimal pro Tag – am Morgen und am Abend – mit der Unterschrift die Anwesenheit im Zentrum bezeugen. Wer das nicht macht, wird bestraft.
Um den Menschen wenigstens etwas Lebensqualität zu vermitteln, hat der Verein „Miteinander“ verschiedene Angebote entwickelt. In regelmässigen Abständen wird beispielsweise ein Suppentisch, resp. Mittagstisch durchgeführt.
Beliebt sind auch Film-Vorführungen, die gelegentlich stattfinden.
Selten – aber doch – gibt es etwas zu feiern. Zum Beispiel wenn ein Mann hat nach fast einem Jahr Flüeli-Aufenthalt die Aufenthaltsbewilligung erhält – das war Anlass für ein Grill-Fest am 1. Juli 2010.
Zweimal pro Monat treffen sich die Flüeli-Bewohner mit Mitgliedern des Vereins zu Kaffee und Kuchen.
Was hier gemacht wird, ist nicht spektakulär. Es bedeutet aber viel für die Menschen, die praktisch eingesperrt und zur Untätigkeit verurteilt sind. Sie haben bei diesen Anlässen Gelegenheit ihre Probleme vorzubringen: Gesundheitliche Probleme, Beziehungsprobleme, Probleme mit Behörden, mit den zuständigen Botschaften und Konsulaten, sprachliche Probleme beim Lesen von Dokumenten usw. Nach Möglichkeit wird geholfen und nicht selten wird Unmögliches möglich gemacht. Manche sind seit langem, sogar seit Jahren Empfänger der Nothilfe. Die Hoffnung auf eine Lösung, z.B. auf eine Härtefall-Regelung haben viele aufgegeben.
Das Ausreisezentrum Flüeli ist ein Beispiel schweizerischer Asyl- und Flüchtlingspolitik, die in wesentlichen Teilen eine Abschreckungs- und Ausgrenzungspolitik ist. An dieser Stelle zitiere ich einen Satz, der zwar uralt aber so schön ist, dass man ihn immer wieder gerne zitiert. Auf dem legendären Höhenweg der Landesausstellung 1939 war folgende Deklaration zu lesen:
«Die Schweiz als Zufluchtsort Vertriebener, das ist unsere edle Tradition. Das ist nicht nur unser Dank an die Welt für den Jahrhunderte langen Frieden, sondern auch besonderes Anerkennen der grossen Werte, die uns der heimatlose Flüchtling von jeher gebracht hat.»
Wir alle wissen, dass die Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg das Gegenteil der zitierten Deklaration war. Die gegenwärtige Flüchtlingspolitik ist auf dem Weg, ins gleiche Fahrwasser zu geraten. Der Verein «Miteinander Valzeina» setzt mit praktischer Nachbarschaftshilfe Gegenakzente. Auch mit öffentlichen Auftritten, Aufrufen zur Solidarität. Mit einer Petition an den Regierungsrat von Graubünden, einer Postkartenaktion an die Mitglieder des Grossen Rates oder mit Beteiligung an einer Kampagne verschiedener Organisationen «Nothilfe-Regime, Eine Sackgasse für alle».
Die Bilanz aus diesen und weiteren Initiativen ist rasch gezogen: Misserfolg so weit das Auge reicht. Die humanitären Aktivitäten stossen auf Widerstände. Widerstände auch in der näheren Umgebung. Auch von den Behörden in Graubünden. Diese werfen dem Verein vor, die abschreckenden Massnahmen zu unterlaufen.
Umso wichtiger sind die Initiativen von Daniela Stirnimann-Gemsch und des Vereins„miteinander Valzeina“. Mit Max Frisch möchte man ihnen zurufen: „Nur ja die Wut nicht verlieren!“ Der Paul Grüninger-Preis mag ihre Wut und ihren Mut stärken.
Otmar Hersche, St. Gallen, 11. November 2011