Madeleine Dreyfus
Die Geschichte besteht, man weiss es unterdessen, aus einer Vielfalt von einzelnen Geschichten. Die Kunst der Fachhistoriker besteht darin, uns die Geschichte auf eine Weise zu erzählen, die uns die Geschichten dahinter näher bringt, also auch die von der Geschichte betroffenen menschlichen Schicksale mit einbezieht. Kürzlich wurde Saul Friedländer mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet, weil er es verstand, den Opfern der Schoa eine Stimme zu verleihen, indem er Geschichte nicht nur dokumentiert, sondern erzählt. Dieselbe Vorgehensweise wurde dem Flüchtlingsbericht der Bergier-Kommission über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg angekreidet – oder lobend vermerkt, je nach politischer Ausrichtung. Genau diese persönlichen Geschichten, die aufzeigen könnten, wie sich in einem bestimmten historischen Moment die Handlungsweise Einzelner und die politische Situation, in der sie leben, überkreuzen und exemplarisch werden, müssen wir Ihnen heute aus Sicherheitsgründen vorenthalten.
An dieser Stelle würde der Preis übergeben. Während Herr X und Frau Y auf die Bühne träten und wir die Details ihrer persönlichen Geschichte mitteilen würden, würden Sie, meine Damen und Herren, vielleicht ihre Gesichter betrachten und versuchen heraus zu spüren, was die Gesichter uns erzählen vom Drama, das sie erlebt haben. Und während die Preisträger sich bedanken würden für die Überreichung des Preises in Form eines Checks, und uns erläutern, was er ihnen bedeutet und wie sie ihn einsetzen wollen, würden Sie sich vielleicht fragen, was es denn eigentlich ist, das Menschen diese Zivilcourage ermöglicht.
Und vielleicht würden einige hier sich fragen, wie würde ich denn… unter solchen Umständen….bei diesem Druck…. und dankbar sein für die privilegierte Situation, die wir hier in der Schweiz haben, wo es nicht gefährlich ist, die Wahrheit über die Realität zu sagen, nur manchmal etwas anstrengend und aufwändig.
Die heute ausgezeichneten Personen, ein Mann und eine Frau, haben sich unabhängig voneinander für die Verbreitung der Wahrheit eingesetzt, sie haben sich nicht von der Propagandavereinnahmen lassen, und sie sind mutig dafür eingestanden.
Im Wesentlichen geht es darum, dass sie trotz der ungeheuren Gefahr, in die sie sich selbst oder ihre Liebsten damit bringen, zu ihrer Wahrnehmung der Ereignisse standen und nichteinstimmten in die Behauptung der Staatspropaganda, die so genannten «Aufständischen» hätten während des Massakers von Andischan das Feuer eröffnet, unter Lebensgefahr stellten sie sich in den Dienst der Wahrheit, die bekanntlich das erste Opfer der Berichterstattung im Kriegsgebiet ist. Sie wollten dafür sorgen, dass die Welt von Andischan erfährt – damit den Toten irgendwann einmal Gerechtigkeit widerfahren kann.
Sie liessen sich weder von möglicher Haft und Folter abschrecken noch von der Aussicht, als islamistische Terroristen abgestempelt zu werden, womit sie auch jeder Unterstützung aus dem Westen verlustig gehen.
Sie erfüllen die Kriterien unseres Preises, die ich an dieser Stelle aufführe: Der Paul Grüninger Preis kann an Personen und Organisationen verliehen werden, die sich durchbesondere Menschlichkeit, besonderen Mut und besondere Unvoreingenommenheit auszeichnen. Menschlichkeit heisst sowohl Einsatz für Menschenrechte im Allgemeinen als auch Einsatz für bedrohte oder verfolgte Menschen im Einzelnen.
Mut heisst sowohl Zivilcourage in der Öffentlichkeit als auch uneigennützige Hilfeleistung im Geheimen.
Unvoreingenommenheit heisst sowohl geistige Unabhängigkeit von staatlichen, religiösen, ökonomischen und politischen Mächten als auch praktizierte Unabhängigkeit von Vorurteilen im Alltag.
Der Paul Grüninger Preis soll an Personen oder Organisationen verliehen werden, die einen bedeuten den und für sie selber vielleicht riskanten Beitrag geleistet haben oder leisten, dass Menschen in der Welt frei und in Würde leben können.
Die Verleihung des Paul Grüninger Preises soll stets eine praktische Intervention und ein deutliches Signal sein. Der Paul Grüninger Preis soll die Empfängerinnen und Empfänger über die materielle Zuwendung hinaus in ihrem Engagement unterstützen, und falls sie durch dieses Engagement gelitten haben, soll der Paul Grüninger Preis auch einen Beitrag leisten zur öffentlichen Rehabilitation der Preisträgerinnen und Preisträger.
Der Paul Grüninger Preis in Höhe von 50’000 Schweizer Franken wird im Jahr 2007 anonym je zur Hälfte an eine Preisträgerin und einen Preisträger in Usbekistan verliehen, die nach Meinung des Stiftungsrates und nach Ansicht aller befragten Experten diesen Kriterien entsprechen.
Die Paul Grüninger Stiftung findet Wege, den beiden Preisträgern das Geld zu übergeben. Wir stehen mit unserem Namen für die Preisträger ein. Wir schützen sie, indem wir ihre Namen und ihre Handlungen, für die sie den Preis verliehen bekommen, geheim halten. Wir setzen dabei auf das Vertrauen und das Ansehen, das die Stiftung mit dem Namen Paul Grüningers verbindet. Es wird der Tag kommen, da wir die Preisträger öffentlich ehren können. Bis dahin werden wir ihr Schicksal aus der Ferne beobachten und nicht schweigen, falls ihnen etwas zustösst.
Madeleine Dreyfus ist Stiftungsrätin der Paul Grüninger Stiftung.