Arnold Hottinger
Afghanistan war einst ein nahezu paradiesisches Land. Ich persönlich verdanke ihm von den schönsten Erinnerungen all meiner Reisen im Orient. Hohe Berge aus grauem und nacktem Fels über sehr langen Tälern mit saftigem, grünem Grund. Menschen darin, die einfach lebten, aber ihrem Leben einen Sinn abgewannen, die singen konnten, verwurzelt in ihren Feldern , oder unterwegs mit ihren Tieren durch die Täler und über die Berge. Sicher und selbstgewiss standen sie in ihren Sitten und Bräuchen. Aber Offenheit gegenüber den Fremden, Gastfreundschaft war eines der Grundgebote. Die Tasse mit grünem Tee der erste Ausdruck davon. Die Landschaft und die Menschen schienen in enger Harmonie zu stehen. Was die Menschen taten und wie die Natur, ihre eigene innerasiatische Berglandschaft, sie umfing, gab ein unteilbares Ganzes ab. Ihr Kunsthandwerk, blau glasierte Tonschalen und Krüge, braune und rote Teppiche, mit strengen geometrischen Mustern, gehörte auch mit dazu. Khaste na bashid, war der Gruss auf den Bergpfaden, «möget ihr nicht ermüden!»
Ich sagte, ein nahezu paradiesisches Land. Ein vollkommenes Paradies ist wohl nirgends auf Erden zu finden. Man lernte natürlich auch die Kehrseiten kennen, oder doch einige davon. Befremdet stand der europäische Besucher vor der Erscheinung vieler tief verhüllter Frauen in Städten und Dörfern; noch mehr physisch isoliert und moralisch abgesondert, so schienen sie, als in anderen nahöstlichen Ländern. Als ob die Männer sich ihrer in der Öffentlichkeit schämten; als ob es ein Zeichen der Schwäche sei, mit einer Frau zusammen auf der Strasse gesehen zu werden. Doch damals, vor 40 Jahren, konnte man glauben, dass diese beunruhigende Ungleichheit schrittweise abnehme. Gab es doch einerseits die Nomaden, unter denen es keinen verhüllenden Chador und keine Gitter vor den Gesichtern gab und andrerseits Städte, in deren Strassen nicht wenige Frauen verkehrten, die sich solcher Zwänge entledigt hatten.
In den Städten fand man eine Verwaltung vor, die man lieber vermied, weil sie ebenso bürokratischer wie unfähig war. Man stiess auf wenige, mächtige Reiche und sehr viele Arme: die Armen in solcher Zahl, dass die Reichen sich nicht um sie kümmern konnten oder wollten… jedenfalls nicht kümmerten. Berichte von verheerenden Hungersnöten, denen die Armen schutzlos zum Opfer fielen, fehlten schon damals nicht. In den Städten sprangen die Missstände mehr in die Augen als auf dem Land, wo sie wahrscheinlich versteckter blieben.
Es gab auch die Hazara, Leute die anders aussahen als ihre Mitbürger, asiatischere Gesichtszüge trugen, und die im damaligen Kabul behandelt wurden, als gehörten sie nicht zum Menschengeschlecht; – nur grade, um Körbe mit Lasten zu schleppen, brauchte man sie. Doch all dies waren Unvollkommenheiten, von denen man damals meinen konnte, sie würden nicht dauern, sie gehörten zu einer dunklen Vergangenheit, die sich allmählich aufhelle. Den Zauber des Berglandes unter blendendem Himmel und seiner Menschen, die sich so stolz und frei durch ihre Täler bewegten, konnten einige offensichtliche und kaum abgestrittene negative Aspekte nicht überschatten.
Meine Damen und Herren, Afghanistan ist seither ein Land des schwärzesten Unglücks geworden. Zerstört nicht nur physisch sondern auch in seinen Sitten und seiner Moral. Verzweiflung droht an die Stelle der Hoffnung zu treten; Hinterhältigkeit unterwühlt Brüderlichkeit. Es gab stets einen Kult der Waffen und eine stolze Tradition harter Stammeskriege, doch der Waffenkult besass Regeln und Normen. Diese sind nun zusammengebrochen, was bedeutet, dass die nackte Gewalt die Bindungen zerreisst, in denen sich frühere Kriege abspielten… Immer mehr Unglück sucht die Afghanen heim. Jahre und Jahre von Krieg haben die alten Ordnungen unterspült. Der Krieg ist dem Lande von aussen her aufgezwungen und aus dem Ausland immer weiter genährt worden, bis er fast alles verbrannte. 9 Jahre lang, 1979 bis 1988, wurde der europäische Kalte Krieg in Afghanistan als ein Heisser Krieg ausgetragen. Als das nach allen seinen verheerenden Zerstörungen und Verlusten zu Ende kam, war es nicht das Ende. Die afghanischen Kriegsparteien bekämpften sich weiter, sie waren in den 9 Jahren zu Waffen gekommen und sie kannten nichts anderes mehr als im Wunsch ihre eigene Machtposition zu erhalten, mit der Gewalt ihrer Waffen alle Gegenspieler vernichten zu wollen.
Die Aussenmächte zogen ihre Hand damals nur scheinbar zurück. Der Krieg um die Beherrschung des Landes zwischen den « Kommandanten « dauerte mit ständig wechselnden Allianzen und zerstörerischer als je weitere fünf Jahre an. Danach war noch immer kein Ende. Pakistan, dessen afghanischer Protégé (der fanatische Islamist Hikmatyiar) sich nicht durchgesetzt hatte, mischte sich noch massiver ein als zuvor, mobilisierte und rüstete die sogenannten Taleban aus: Kämpfer, die der pakistanische Geheimdienst in den ländlichen Islamschulen der pakhtunischen Grenzzone und in der pakistanischen Provinz selbst ausgehoben und ausgebildet hatte, um sie auf Afghanistan loszulassen. Diese Taleban haben sich zwischen 1996 und 1999 mit pakistanischer Waffenhilfe fast des ganzen Landes bemächtigt und führen dort seither ein höchst undurchsichtiges, gewalttätiges und arbiträres Regime, das sie islamisch verkleiden. Wobei die islamische Tünche in Wirklichkeit dazu dient, ihre Macht abzusichern, ohne dafür dem ins Unglück geratenen Land und Volk irgendwelchen Nutzen zu bringen.
Die gegen die Frauen und die Hazara bestehenden Vorurteile wurden von den Taleban ausgebreitet und verstärkt. Die Entmündigung und Erniedrigung der Frauen dient nun der Niederhaltung der gesamten afghanischen Gesellschaft, indem die Geschlechter gegeneinander ausgespielt und aufgehetzt werden. Zu all diesem Unglück kommt neuerdings Hungersnot durch anhaltende Dürre. Das Regime führt auch heute noch Krieg und betreibt ausserdem eine Aussenpolitik, die es den äusseren Mächten und internationalen Hilfsorganisationen entfremdet. Es dürfte heute weitgehend vom Opiumanbau und Heroinexport leben.
Die Lage scheint hoffnungsloser als je. Wer kann, setzt sich ab und versucht im Ausland, am liebsten weit weg von allem afghanischen Unglück, eine neue Existenz aufzubauen. Was man niemand verübeln kann, schon weil alle echte Aufbauarbeit in Afghanistan selbst ein Ding der Unmöglichkeit scheint.
Dennoch gibt es Menschen die nicht aufgeben. Frau Doktor Sima Samar arbeitet weiter angestrengt zum Wohl ihres Volkes. Sie sagt von sich selbst, dass sie in ihrem Lande eine dreifache Diskrimination erleide, als Frau, weil sie sich für Frauen einsetze und als Hazara….. Wie etwa zwei Millionen anderer Afghanen, Männer, Frauen und Kinder, sah sie sich gezwungen, Afghanistan schon 1984 zu verlassen. Als Ärztin hätte sie gute Möglichkeiten gehabt, allem afghanischen Unglück den Rücken zu kehren und sich irgendwo in bequemeren Weltteilen zwischen Neuseeland und Californien, Kanada und Argentinien niederzulassen. Sie hat es nicht getan. Stattdessen widmet sie sich einer beinahe unmöglich scheinenden Aufbauarbeit auf dem Gebiet, wo diese am schwersten sein dürfte, aber, wie sie erkannte, auch am wichtigsten ist, wenn es echte Hilfe zu bringen gilt. Nämlich der Ausbildung und dem Gesundheitswesen der Frauen im Inneren von Afghanistan und im nahen Grenzland von Quetta, wo viele, zu wenig betreute Flüchtlinge und Flüchtlingsfrauen aus Afghanistan leben.
Ihre Arbeit geschieht trotz dem Verbot der talebanischen Machthaber, Frauen und Mädchen zu schulen. Es gelingt ihr, dem entgegenzuhandeln, indem sie mit ihren Mitarbeiterinnen im Lande nicht frontal gegen die Machthaber ankämpft, weil ein solches Vorgehen diese nur zu brutalen Vernichtungsschlägen veranlasste, sondern indem sie seitlich laviert, und dabei den Willen der Afghaninnen weckt – gerade den der doppelt und dreifach misshandelten unter ihnen, der Hazara Frauen –, trotzdem zu lernen, zu lehren und etwas für die Gesundheit der leidenden, unversorgten afghanischen Frauen zu tun.
Die neue Paul Grüninger Stiftung hat ein gewissermassen genetisches Interesse daran, eine Soge Arbeit zu würdigen. Soll sie doch dem Gedenken eines Mannes dienen, der den Mut besass, die Notwendigkeit, Notleidenden und Gefährdeten zu helfen, über das Gebot von Behörden zu stellen, die ihrerseits glaubten, dem engen Eigennutz der von ihnen gelenkten Gesellschaft, so wie sie ihn verstanden, den Vorrang geben zu müssen. Menschenrechte vor behördlichen Einschränkungen und Vorschriften, das gilt auch von der hingebungsvollen Tätigkeit von Frau Dr. Samar; oder wenn Ihnen, wie es mir manchmal geht, der Begriff «Menschenrechte» angesichts der unmenschlichen Leiden eines ganzen Volkes ein wenig zu abstrakt und zu juristisch-bürokratisch erscheint, dann lieber: die Notwendigkeit auf die Leiden der Menschen zu reagieren, sogar dann, wenn Machthaber und Gesetzgeber sie ignorieren, ja – wie es vorkommt – verbieten wollen, sich ihrer anzunehmen oder sie gar verursachen.
Die Stiftung meint auch, dass sie dabei in erster Linie Personen auszeichnen möchte, die nicht gewissermassen berufsmässig für Menschenrechte eintreten sollten, etwa Anwälte, Theologen, sondern gerade solche, deren Beruf es ihnen erlauben würde, mit gutem Gewissen eine Tätigkeit auszuüben, die als segensreich gerechtfertigt werden kann und ihnen dennoch ein bequemeres Leben gestattete.
Dies ist nun eminent bei Frau Dr. Samar der Fall. Sie stand auf gegen die schwarze Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die ihr Land wie ein dunkles Tuch überzieht, auch dann wenn die heute das Land beherrschenden Kräfte solche Aktivitäten nicht nur missachten sondern sogar zu verhindern suchen. Sie erreicht Resultate trotzdem die Machthaber tun, was sie können, um ihre Hilfe für die Vergessendsten der Vergessenen, die absichtlich auf die Seite geschobenen Frauen und Hazara, nicht zuzulassen. Wie sie das tut, muss wahrscheinlich in manchen Details ihr Geheimnis bleiben. Doch dass es immer wieder gelingt und eben doch etwas getan werden kann, allen engstirnigen und egoistischen Eigeninteressen der Mächtigen zum Trotz, das kann sie vorzeigen. 17 000 Mädchen und Jungen , die dennoch zur Schule gehn; eine Kette von Spitälern, in denen afghanische Frauen behandelt werden mit gleichzeitigen Ausbildungsmöglichkeiten für Krankenpflegerinnen und mit Aussendiensten. Dass dies allen Behinderungen zum trotz möglich ist und sich weiter entwickelt, stellt einen Lichtstrahl dar, der in die Dunkelheit einiger der am schwersten leidenden Provinzen des als ganzen unendlich geprüften Landes und seiner am Rande der Hoffnungslosigkeit lebenden Menschen fällt; das gibt es, und sie hat es ausgelöst und trägt es voran. Dafür danken wir ihr und sind froh, wenigstens einen weiteren Tropfen zur Linderung des Elendes beitragen zu dürfen, nicht zuletzt weil wir, bei genauer Betrachtung, an dem dortigen Geschehen nicht unschuldig sind. Wir, in unserem Weltteil und voller stolz auf unsere Technologie, haben die Waffen erfunden und geliefert, mit denen Afghanistan zu Grunde gerichtet wird, und ebenfalls: wir Europäer legen eine bedenkliche Neigung zu Tag, auf die Ideologie und Propaganda der Taleban hereinzufallen, wenn sie behaupten, dass sie den «Islam» verwirklichten und verträten, indem wir dabei unseren aus dem Mittelalter stammenden anti-islamischen Vorurteilen nachhängen und sie bestätigt glauben.
Verehrte Damen und Herren; die Leiden Afghanistans sind nicht überwunden. Zur Zeit dürfte es jeden Tag mehr und mehr neues Elend, bis in den Tod, von Menschen in Afghanistan geben, Opfer der Hungersnot, von der man befürchten muss, dass sie erst in den Anfängen steht. Wiederum sind die schwächsten am meisten gefährdet, nämlich die Frauen und die kleinen Kinder. Doch heute für einen kurzen Moment dürfen wir doch auf den Lichtstrahl blicken, der in all dieses Elend dringt, und der darauf zurückgeführt werden kann, dass eine überaus mutige und entschlossene Frau dem schwarzen Geschick entgegentritt, dass es ihr gelingt und – hoffen und helfen wir – weiter gelingen wird, gerade an dem Punkt gegen das Elend einzugreifen und Erfolge zu zeitigen, wo es am dunkelsten und dichtesten ist, und am schwierigsten anzugehen erscheint…